Mindestlohn: Das Spiel mit dem Vakuum im Bundestag

Die Opposition könnte jetzt schnell den Mindestlohn einführen, denn sie hat die Mehrheit.

Berlin. An diese Szene muss sich das Land erst gewöhnen: Wenn Angela Merkel (CDU) künftig im Bundestag ihre Reden beendet, wird Gregor Gysi zum Pult marschieren, um der Kanzlerin Kontra zu geben.

Wie überhaupt im Fall einer großen Koalition dem Auftritt eines Regierungsvertreters stets die Erwiderung eines linken Abgeordneten folgt. Zum ersten Mal ist die Linkspartei drittstärkste Kraft im Bundestag geworden. Gysi wäre unter schwarz-roten Vorzeichen der Oppositionsführer im Parlament.

Dabei hat die Linke eher ein schlechtes Wahlergebnis eingefahren und ist nur noch mit 64 Abgeordneten im Bundestag vertreten. Vorher waren es 75. Was aber strategisch viel mehr ins Gewicht fällt: SPD, Linke und Grüne haben rein rechnerisch eine Mehrheit im Parlament. Die Linke lockt beharrlich mit dieser Option, obwohl SPD und Grüne genauso abwinken.

Jüngstes Beispiel ist der Vorstoß von Linkspartei-Chefin Katja Kipping für einen Parlamentsbeschluss zum Mindestlohn. Ihr Kalkül: Spätestens am 22. Oktober muss sich der neue Bundestag konstituieren.

Eine Regierungsbildung wird aber wohl länger dauern. In dieser Zeit eines machtpolitischen Vakuums könnte mit SPD und Grünen ein Beschluss für einen flächendeckenden Mindestlohn zustande kommen, den die alte, noch amtierende Bundesregierung dann umsetzen müsste. Schließlich wären weder SPD noch Grüne an einen Koalitionsvertrag mit der Union gebunden.

Unter Schwarz-Rot dürften sich solche „parteitaktischen Spielchen“ (SPD-Fraktionsvize Hubertus Heil) erst recht wiederholen. Schließlich enthält das SPD-Wahlprogramm von der Bürgerversicherung über die Solidarrente bis zur Bekämpfung prekärer Beschäftigung viele weitere Punkte, die sich mit den Forderungen der Linken decken.

Mittelfristig ist die rot-rot-grüne Option auch für die SPD verlockend. Der schleswig-holsteinische Landesparteichef Ralf Stegner formulierte es kurz nach Schließung der Wahllokale fast wortgleich wie Gysi: „Ich glaube, es wird der letzte Wahlkampf gewesen sein, wo wir sagen, mit denen oder jenen nicht.“

Ob es zu einer rot-rot-grünen Bundesregierung 2017 kommt, wird auch von der Kabinettsbildung in Hessen abhängen. Ein solches Bündnis ist dort nicht ausgeschlossen, weil weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün eine Mehrheit haben. Auf jeden Fall werden sich die Linken auch im Bund weiter für Rot-Rot-Grün ins Zeug legen — egal, ob Gysi Oppositionsführer wird oder nicht.