Parteitag der Piraten: Chaotischer Neustart in Neumarkt

Die Piraten reiben sich bei ihrem Bundesparteitag auf: Streit gibt es vor allem um die Mitbestimmung der Basis.

Neumarkt. Sie haben etwa 30 Stunden debattiert, ein Wahlprogramm auf den Weg gebracht und eine junge, redegewandte Frau in ihre Spitze gewählt: Die in den Umfragen abgestürzten Piraten haben am Wochenende in Neumarkt versucht, ihren Kompass für die Bundestagswahl zu justieren. Doch zeigte der heftige Streit um die ständige Mitgliederversammlung, bei der die Mitglieder permanent und verbindlich den Kurs der Partei bestimmen sollen, dass die Piraten noch immer schwer mit ihrer basisdemokratischen Organisation zu kämpfen haben.

Parteitage der Piraten haben ihr ganz eigenwilliges Flair: In den Jura-Hallen tummeln sich junge, computerbegeisterte Männer in bedruckten T-Shirts, die Frauen tragen extravagante Piratenbraut-Roben. Vor dem Eingang floriert der Bier- und Bratwurstverkauf. Doch die Bierzelt-Atmosphäre täuschte nur oberflächlich darüber hinweg, dass die rund 1200 Piraten im Saal sich Sorgen machen um den erhofften ersten Einzug in den Bundestag.

Besonders Neumitglieder sind enttäuscht, dass der Höhenflug seit den triumphalen Einzügen in vier Landtage erst einmal vorbei ist. Die schwierige Lage der Piraten skizzierte jüngst auch eine Studie: Die bei den Piraten verbreitete „Schwarmorganisation“ sei zu einer politisch notwendigen Agendasetzung „kaum in der Lage“, kritisieren Politikwissenschaftler vom Göttinger Institut für Demokratieforschung die nur schwer in verständliche Bahnen zu lenkende Meinungsbildung.

Zunächst sah es aus, als wollten die Piraten diese These Lügen strafen: Eisern arbeiteten sie sich durch das Antragsbuch mit mehr als 800 Seiten, am Ende standen Beschlüsse zu Kernthemen wie Netzpolitik, Bürgerrechte und Transparenz im Wahlprogramm. Die Piraten fordern die Abschaffung von Bundestrojanern, die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden und ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie die Erhöhung der Bildungsausgaben.

Manchen Parteitagsteilnehmern wurde schwindelig bei dem Beschluss-Tempo. „Ihr habt also gerade ohne inhaltliche Debatte ein Wahlprogramm beschlossen, das ihr nicht gelesen habt“, twitterte Mitglied Anne Helm besorgt.

Die Online-Mitgliederversammlung hätte Aushängeschild sein können

Und dann sprengten Streits um die sogenannte ständige Mitgliederversammlung (SMV) die straffen Zeitpläne der Parteitagsregie: Zwei Abende lang bekämpften sich die Befürworter und Gegner mit immer neuen Geschäftsordnungsanträgen. An den Mikrofonen bildeten sich lange Schlangen, auf einem Laufband wurde in roten Lettern der Schriftzug „Bitte kein Tumult“ in den Saal projiziert.

Viele Piraten hätten gerne so ein cooles Werkzeug. Mit der SMV könnten sie dem Partei-Establishment in Berlin vielleicht zeigen, wie man im Netz massenhaft Leute für Politik begeistert. Das wäre ein Alleinstellungsmerkmal. Doch die mächtige Basis hat Bauchschmerzen — und stimmte am Ende in Neumarkt mit knapper Mehrheit gegen das Vorhaben.

Eine Netzpartei hat Angst vor dem Netz? Beim Datenschutz im eigenen Laden gibt es keine Kompromisse. Viele wollen nicht, dass sie mit ihrem echten Namen für immer Spuren im Netz hinterlassen, wenn sie Ja oder Nein zu Koalitionsoptionen oder Gesetzen sagen sollen. Auch könne niemand Manipulationen bei Abstimmungen ausschließen.

Dabei hatten sich Spitzenpiraten gewünscht, dass sich die Partei wenigstens auf das Bekenntnis zur SMV einigen würden, ohne technische Details auszudiskutieren. Die offenbar werdende Lähmung der Piraten kommentierte Schlömer: „Das Thema ist einfach nicht entscheidungsreif.“

Im Vorstand um Schlömer jedenfalls soll nach den Reibereien der Vergangenheit erst mal Ruhe einziehen. Die neue politische Geschäftsführerin Katharina Nocun (26) löste den mitunter exzentrisch agierenden Johannes Ponader ab. Ob allerdings Schlömers Motivationsaufruf „Piraten, auf in den Deutschen Bundestag!“ auch beim Wähler ankommt, ist weiter offen. Im Emnid-Wahltrend lag die Partei am Sonntag immerhin bei vier Prozent — auf Augenhöhe mit der FDP.