Interview Die „vergessenen“ Schicksale von Millionen

Berlin · Weltweit gab es noch nie so viele Flüchtlinge wie im Jahr 2019. Das Schicksal vieler davon sei auf „vergessene Kriege“ zurückzuführen, erklärte Peter Ruhenstroth-Bauer, Geschäftsführer der UNO-Flüchtlingshilfe, des deutschen Partners des UN-Flüchtlingshilfswerkes (UNHCR), im Gespräch mit unserem Korrespondenten Stefan Vetter.

Griechenland, Lesbos: Ein Blick auf das Zwischenlager neben dem Lager Moria auf der Insel Lesbos.

Foto: dpa/Angelos Tzortzinis

F: Herr Ruhenstroth-Bauer, das Jahr neigt sich dem Ende zu. Wie fällt ihr Fazit aus?

A: Sehr zwiespältig: Über 70 Millionen Menschen auf der Flucht sind ein trauriger Rekord, Tendenz steigend. 91 Prozent aller Flüchtlinge leben nicht in der EU. Die Hauptlast der Flüchtlingsbewegung tragen primär die jeweiligen Nachbarländer. Gleichzeitig erleben wir viel Solidarität für die nationalen und internationalen Projekte, die wir unterstützen.

F: Eine große Rolle bei der Flüchtlingshilfe hat die Seenotrettung im Mittelmeer gespielt. Wird damit nicht auch das Geschäft der Schlepper begünstigt?

A: Bei der Seenotrettung sind sicher viele Emotionen im Spiel. Es darf allerdings keine Debatte darüber geben, ob sie notwendig ist. Wer die Lebensrettung auf hoher See kriminalisiert, vergeht sich an Werten wie Humanität und Menschlichkeit. Die europäischen Länder sind aufgefordert, endlich einen wirksamen Mechanismus zu entwickeln, um die Flüchtlinge EU-weit zu verteilen und die Mittelmeer-Staaten damit zu entlasten.

F: Die aktuelle Kampagne der UNO-Flüchtlingshilfe will für „vergessene Krisen“ sensibilisieren. Was ist damit gemeint?

A: Viele Flüchtlinge erleben ein Martyrium abseits der Weltöffentlichkeit, denn die Krisen ihrer Länder sind aus den täglichen Nachrichten verschwunden. Zumeist handelt es sich um sehr lang andauernde Konflikte mit enormen Flüchtlingsbewegungen. Die Hintergründe dafür sind oft komplex, und die politische Lage vor Ort ist unübersichtlich. All diese Umstände führen zu einem Mangel an Hilfsgütern und Spenden für die Menschen vor Ort.

F: Um welche Staaten geht es?

A: Ich denke da zuerst an den vergessenen Bürgerkrieg im Jemen. Dort sind etwa 80 Prozent der Bevölkerung auf Hilfe angewiesen - 24 Millionen Menschen. Das ist gegenwärtig die größte humanitäre Krise auf der Welt. Mehr als 3,6 Millionen Menschen im Jemen sind bislang vertrieben worden. Die Hilfe vor Ort ist allerdings dramatisch unterfinanziert, weil die Krise sowohl international als auch in Deutschland kaum Aufmerksamkeit bekommt.

F: Gibt es weitere Brennpunkte?

A: Ja, Ähnliches wie im Jemen gilt auch für die Konflikte im Südsudan, im Kongo und in Bangladesch. Fast 85 Prozent der Flüchtlinge allein aus dem Südsudan sind Frauen und Kinder. Dabei kommt es häufig zu einer fatalen Wechselwirkung verschiedener Fluchtursachen. Im Südsudan ist es die traurige Kombination aus Krieg und Klimakatastrophe, und im Jemen sind es Krieg und Seuchen.

F: Das klingt alles sehr pessimistisch.

A: Das ist eine realistische Zustandsbeschreibung. Aber es gibt auch ermutigende Beispiele. So konnten allein im ersten Halbjahr 2019 immerhin fast 1,3 Millionen südsudanesische Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Und 322.000 Kindern wurde ein Schulbesuch ermöglicht. Insgesamt betrachtet sind das aber eher kleinere Erfolge. Denn oft fehlt es dem UNHCR am nötigen Geld. Das Globale Flüchtlingsforum des UNHCR in der vergangenen Woche in Genf hat aber auch gezeigt, dass gerade die Bundesregierung als zweitgrößter Unterstützer sowie private Geber über die UNO-Flüchtlingshilfe eine sehr wichtige Hilfe leisten.

F: Vielleicht liegt die Spendenzurückhaltung ja vor allem am mangelnden Vertrauen, dass das Geld auch wirklich bei den Betroffenen ankommt.

A: Vertrauen und Transparenz der Organisation zählen zu den Schlüsselfaktoren, ob und wie man unterstützt. Daher sind wir Mitglied der Initiative Transparente Zivilgesellschaft. Deshalb ist es wichtig, dass sich Spendenorganisationen streng überprüfen lassen. Spender sollten also auf das DZI-Spendensiegel, das wir tragen, oder das Siegel des Deutschen Spendenrats achten. Und natürlich wird vom UNHCR und von uns selbst geprüft, wie die Gelder eingesetzt werden und wie die Hilfe wirkt.