SPD-Fraktionschef Steinmeier: "Wir brauchen eine europäische Ratingagentur"

Düsseldorf. Wenn Sie als ehemaliger Außenminister die Bilder aus Syrien sehen und die beinharte Weigerung der UN-Vetomächte Russland und China erleben, diese Massaker zu verurteilen, fühlt sich das dann an wie ein Offenbarungseid der Weltgemeinschaft?


Steinmeier: Die guten Tage nach der Wahl von US-Präsident Barack Obama und dem Willen in Washington und Moskau, auf den Knopf für einen Neustart zu drücken, sind lange vorbei. Inzwischen streiten die USA und Russland nicht nur über die Raketenabwehr, sondern über nahezu alle entscheidenden Fragen im UN-Sicherheitsrat. Bedauerlicherweise gehört Syrien dazu. Das ist für die Menschen in Syrien dramatisch.

In Libyen hat der Westen, hat die NATO — bei deutscher Enthaltung im UN-Sicherheitsrat - unter französischer und britischer Führung eingegriffen und das Ende des Gaddafi-Regimes beschleunigt. Was unterscheidet Libyen von Syrien?

Steinmeier: Niemand im Sicherheitsrat setzt Libyen und Syrien gleich. Wer bei der Münchner Sicherheitskonferenz vor und hinter den Kulissen hingehört hat, hat auch wahrgenommen, dass weder in der Arabischen Liga noch im Sicherheitsrat noch in der NATO militärische Interventionen geplant werden. Aber die Weltgemeinschaft darf auch nicht wegschauen. Es ist eine internationale Pflicht, den Druck auf das Regime in Damaskus noch einmal deutlich zu erhöhen.

Schauplatz Europa. Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann hat vor der immensen Ansteckungsgefahr für ganz Europa gewarnt, sollte Griechenland tatsächlich in die Staatspleite gehen. Wie ernst ist die Lage?

Steinmeier: Sie ist sehr ernst und sie hat sich in diesen Tagen noch einmal zugespitzt. Wir brauchen den Verzicht der privaten Kreditgeber auf mindestens zwei Drittel ihrer Forderungen. Griechenland muss aber auch zu erheblichen Strukturreformen im eigenen Land bereit sein. In beiden Fällen brauchen wir eine Einigung in allernächster Zeit — und ich rede nicht von Monaten, sondern von maximal zwei Wochen. Sonst ist die Lage nicht mehr beherrschbar.

Warum kommt Griechenland mit der Veräußerung seines doch beträchtlichen Staatsvermögens nicht voran?

Steinmeier: Die europäische Vorgabe, innerhalb kurzer Zeit 50 Milliarden Euro Privatisierungserlöse zu erzielen, war ökonomischer Unsinn. Wenn die Käufer wissen, dass in kurzer Zeit verkauft werden muss, führt das zu Ramschpreisen. Wir bräuchten stattdessen ein Treuhandmodell - hier kann man auf die deutschen Erfahrungen nach der Wiedervereinigung zurückgreifen. Die Griechen würden definieren, was der Treuhandagentur zur Veräußerung übergeben werden soll. Die Treuhand kehrt im Gegenzug Geld an die Regierung aus, die damit beispielsweise die Staatsschulden senken kann. Die Privatisierung würde dann über 10 bis 15 Jahre gestreckt.

Brauchen wir eine europäische Ratingagentur?

Steinmeier: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine solche europäische Ratingagentur brauchen. Aber wir müssen mit den Erwartungen an sie realistisch umgehen. Sie ersetzt nicht die Bewertung durch die angloamerikanischen Agenturen, sondern fügt ihnen nur eine weitere hinzu. Auch die der Bewertung zugrundeliegenden Daten werden dieselben sein. Und eine europäische Ratingagentur wird der Politik nicht den Druck nehmen, die Staatshaushalte unabhängiger von den Finanzmärkten zu machen. Das geht nur, wenn wir die Neuverschuldung weiter konsequent reduzieren..

Ist das Ihr letztes Wort: Die SPD-Fraktion werde dem Euro-Rettungsschirm ESM nur zustimmen, wenn auch die Finanztransaktionssteuer kommt?

Steinmeier: Wir kennen unsere europäische Verantwortung auch in der Opposition. Es wäre ein Leichtes, europaskeptische Stimmen zu sammeln und populistisch gegen die Regierung zu wenden. Wir haben das aber sehr bewusst nicht getan, denn die Zukunft unseres Landes hängt an der Zukunft Europas. Davon werden wir uns auch in Zukunft leiten lassen. Aber unser Abstimmungsverhalten werden wir dann festlegen, wenn wir von der Regierung im Detail wissen, was dem Parlament zur Entscheidung vorgelegt wird.

Wann ziehen Sie für den Präsidentschaftskandidaten der französischen Sozialisten, Francois Hollande, in den Wahlkampf?

Steinmeier: (lacht) Das muss ich doch gar nicht. Der Auftritt von Frau Merkel für Sarkozy war die beste Wahlkampfhilfe für unseren Freund Francois Hollande. Aber im Ernst: Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel wird auch bei einer Veranstaltung der französischen Sozialisten auftreten. Ich habe auch nichts gegen solche Wahlkampfauftritte innerhalb der Parteifamilien. Das ist für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit sogar gut! Ob es aber klug ist, dass Frau Merkel für Sarkozy ins französische und deutsche Fernsehen geht, ist eine andere Frage. Das ist nicht mehr klassische Wahlkampfhilfe, sondern die Festlegung des deutsch-französischen Verhältnisses auf einen Kooperationspartner. Das ist nicht staatsklug!

SPD-Chef Sigmar Gabriel hat die ungezügelten Finanzmärkte als Gegner im Wahlkampf ausgemacht, nicht Angela Merkel. Warum so zahm?

Steinmeier: Sigmar Gabriel hat richtigerweise gesagt, dass wir nach der zweiten Finanzkrise binnen vier Jahren das Thema Gerechtigkeit zum Hauptthema im Wahlkampf machen müssen. Es geht doch nicht an, dass die Menschen sich vorschreiben lassen müssen, dass Lohnzurückhaltung und Verzicht die Voraussetzung für die Wiedergewinnung wirtschaftlicher Kraft sind. Und dann wird das Erreichte durch Verantwortungslosigkeit von Anlegern auf den internationalen Finanzmärkten wieder zu Fall gebracht. Das macht die Menschen rasend, wenn sie jetzt wieder als einfache Steuerzahler bluten sollen. Deshalb: Gerechtigkeit ist hier keine sozialdemokratische Floskel. Uns muss vielmehr klar sein, dass daran auch die Glaubwürdigkeit unserer Demokratie hängt.

Wie lange hält der Burgfrieden unter den möglichen Kanzlerkandidaten der SPD?

Steinmeier: Viel länger als die Öffentlichkeit offenbar erwartet hat. Und wir werden uns auch nicht zu einer Entscheidung treiben lassen. Jeder weiß, dass Kandidaturen von zwei Jahren und länger kaum erfolgreich durchzuhalten sind. Die Verabredung der SPD, darüber zu Beginn 2013 zu entscheiden, ist deshalb richtig.