Interview Und was kommt jetzt, Herr Schulz?
Die demoskopischen Werte sind hoch — die Erwartungen auch. Ein Gespräch mit dem designierten Chef und Kanzlerkandidaten der SPD.
Aachen. Es ist viel passiert, seit Sigmar Gabriel vor zwei Wochen verkündete, dass Martin Schulz sozialdemokratischer Kanzlerkandidat wird. Die ehemals siechende SPD verspürt neue Kraft und springt von Umfragehoch zu Umfragehoch. Verantwortlich dafür ist der Mann aus Würselen, für dessen Heimatstadt sich die Kandidatur schon jetzt gelohnt haben dürfte. Den ersten Redaktionsbesuch nach seiner Nominierung absolviert er bei unserer Zeitung. Im Interview spricht er selbstbewusst von seinem Anspruch, Kanzler zu werden, gibt sich aber auch nachdenklich mit dem Blick auf den bevorstehenden Wahlkampf.
Wie gehen Sie mit dem Hype um, der seit Ihrer Nominierung um Sie entbrannt ist? Haben Sie damit gerechnet?
Martin Schulz: Wir wussten zwar, dass die SPD ein deutlich größeres Potenzial hat, als die Umfragen vor meiner Nominierung zeigten. Dass es aber so schnell und deutlich nach oben geht, ist schon eine freudige Überraschung.
Dennoch werden Sie sich fragen, wie Sie die guten Umfrageergebnisse halten können?
Schulz: Klar, der Wahlkampf ist kein Sprint, sondern ein Langstreckenlauf. Warum kommen die Leute plötzlich zur SPD zurück, die vorher auf Distanz waren? Weil es ein tiefes Bedürfnis nach sozialdemokratischer Politik gibt. Wir haben eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet, eine Mittelschicht, die sich um ihre Absicherung sorgt. Und wir haben viele junge Menschen, die Haltung wollen, Werte und Geradlinigkeit.
Hält die Sympathiewelle bis September?
Schulz: Ich freue mich erstmal, dass es überhaupt so ist. Vor zwei Wochen lag die SPD in Umfragen bei 21 Prozent; jetzt sind es laut Demoskopen 31 Prozent. Das gibt uns Auftrieb. Ich glaube, dass die Stimmung gut bleiben wird, weil wir eine hochmotivierte Partei haben. Wir müssen glaubwürdig bleiben. Das gelingt uns, wenn wir nur versprechen, was wir halten können. Was wir tun, muss seriös erarbeitet sein. Dafür braucht man auch Zeit.
Die Frage nach Ihren konkreten Konzepten wird gestellt.
Schulz: Schauen wir auf die Frage der Einkommensgerechtigkeit. Die Menschen sehen die massiven Gewinne der multinationalen Konzerne und erleben gleichzeitig, dass die Reallöhne lange Zeit rückläufig waren. Das ist nicht gerecht. Dann fühlen sich viele Menschen von der Gesellschaft und der Politik einfach nicht respektiert. Die Antworten auf diese Probleme sind alte sozialdemokratische Tugenden: Zusammenhalt, Solidarität, Augenhöhe, keiner Herr, keiner Knecht. In Zeitungen lese ich dann, dass das altmodische Rezepte sind. Ich halte das für ein modernes Politikangebot, das Antworten auf die Probleme unserer Zeit gibt.
Der ehemaligen hessischen SPD-Ministerin Christine Hohmann-Dennhardt wurde nach ihrer gut einjährigen Tätigkeit im VW-Vorstand eine Abfindung von zwölf Millionen Euro zugesprochen — von einer SPD-geführten Landesregierung. Wie bringen Sie das mit sozialdemokratischer Gerechtigkeit überein?
Schulz: Ich sage ganz klar, dass ich solche Abfindungen nach dreizehnmonatiger Tätigkeit für inakzeptabel halte. Da ist es vollkommen egal, ob es um eine ehemalige SPD-Ministerin oder sonst wen geht. Solche Entscheidungen werden zwar im Aufsichtsrat getroffen, aber auch die niedersächsische Landesregierung ist dann an geschlossene Verträge und Richtlinien gebunden. Die Richtlinien stammen übrigens von einer CDU-geführten Landesregierung. Klar ist: Solche Auswüchse müssen gesetzlich geregelt werden. Daran arbeiten wir.
Warum haben die von Ihnen genannten sozialdemokratischen Tugenden in der jüngsten Vergangenheit bei der SPD eine eher untergeordnete Rolle gespielt?
Schulz: Das haben sie nicht. Aber ich bekomme in meiner politischen Karriere von den Menschen immer wieder zwei Dinge zu hören: „Ihr Politiker seid alle gleich. Man kann Euch nicht unterscheiden.“ Und: „Ich weiß, dass Du Deutsch sprichst, aber ich verstehe Dich nicht.“ Deshalb versuche ich, so zu reden, dass die Menschen mich verstehen. Und ich versuche, klarzumachen, was mich von meinen politischen Wettbewerbern unterscheidet. Mein Eindruck ist, dass das von vielen Menschen honoriert wird.
Sigmar Gabriel war ja auch ein Politiker aus der Abteilung Klartext. Was unterscheidet Sie von ihm? War er zu unstet?
Schulz: Sigmar Gabriel hat eine einzigartige Leistung vollbracht, die es in der deutschen Parteienlandschaft nicht noch einmal gibt. Dass ein amtierender Parteivorsitzender, der auch Vizekanzler des Landes ist, einem anderen den Vortritt lässt, weil der bessere Chancen hat, ist eine große charakterliche Leistung.
Das war nicht ganz die Frage.
Schulz: Sigmar Gabriel hat ja selbst gesagt, dass er als Vizekanzler immer auch für die große Koalition steht. Darunter hat sein öffentliches Bild gelitten. Das ist zwar ungerecht. Aber es ist so.
Wie langwierig war die Entscheidungsfindung bei der K-Frage?
Schulz: Wir haben in der SPD-Führung über einen langen Zeitraum sehr intensiv miteinander diskutiert, wer die besseren Chancen hat. Sigmar Gabriel hat es 2013 geschafft, ein mäßiges Wahlergebnis in einen Sieg für die SPD umzumünzen: Die große Koalition wird ja unbestritten von sozialdemokratischen Themen geprägt. Wir mussten allerdings auch sehen, dass wir diesen inhaltlichen Erfolg nicht in entsprechende Umfrageergebnisse umsetzen konnten. Das lag unter anderem am Schein-Sozialdemokratisierungskurs der Kanzlerin. Das hat die SPD natürlich unruhig gemacht. Sigmar Gabriel musste also einerseits die Partei zusammenhalten und andererseits in der großen Koalition agieren. Das ist nicht einfach, dafür hat er auch viele ungerechtfertigte Schläge bezogen. Durch die Konflikte zwischen CDU und CSU sehen wir übrigens jetzt, dass die Union eben keine sozialdemokratische Partei ist. Da war ein Etikettenschwindel.
Hat Ihr demoskopischer Erfolg auch etwas damit zu tun, dass die Menschen vielleicht genug von Angela Merkel haben?
Schulz: Das kann ich nicht beurteilen. Ich werbe für mich und meine Position. Ich nehme an, dass die Bundeskanzlerin für sich und ihre Position wirbt. Mit dieser werde ich mich auseinandersetzen, mich aber nicht dazu äußern, ob die Menschen genug von Frau Merkel haben.
Ihre Nominierung wirkte etwas wie „aus der Hüfte geschossen“. Wie gut ist der Kanzlerkandidat Schulz auf die Kandidatur vorbereitet?
Schulz: Sehr gut. Ich bin sehr lange Vorstandsmitglied der SPD. Ich habe mit der SPD-Zentrale bereits einen recht erfolgreichen Europawahlkampf 2014 geführt und kenne die dortigen Mitarbeiter teilweise seit Jahrzehnten. Mir wird derzeit häufig vorgeworfen, dass ich kaum Ahnung von Bundespolitik hätte. Wer sich allerdings bundespolitische Themen anschaut, wird sehen, dass sie zu einem großen Teil von europäischer Politik durchwoben sind. Alles hängt mit allem zusammen.
Sehen Sie eine Diskrepanz darin, dass Sie einerseits als Retter der Sozialdemokratie gefeiert werden, andererseits dienstältestes Vorstandsmitglied sind und somit SPD-Politik in den vergangenen Jahren maßgeblich mitbestimmt haben?
Schulz: Die SPD hat zwischen 1998 und 2005 große gesellschaftspolitische Reformen in diesem Land angeschoben, von denen die Bundesrepublik heute noch profitiert. Die SPD war ab 2005 Minderheitspartner in einer großen Koalition, dann in der Opposition und ist jetzt wieder der kleinere Partner in einer großen Koalition. Wenn wir diese Regierungen angeführt hätten, hätte sich das Land anders entwickelt. Darum ist unser Ziel für September ja auch, stärkste Fraktion zu werden, um die Regierung durch einen sozialdemokratischen Kanzler anzuführen.
Die Agenda 2010, die der SPD in den Augen vieler wie ein Klotz am Bein hängt, ist aber unter einem SPD-Kanzler durchgesetzt worden.
Schulz: Ich habe gesagt, dass die SPD große gesellschaftspolitische Reformen angestoßen hat, ich habe nicht gesagt, dass wir den Stein der Weisen erfunden hätten. Natürlich haben wir auch Fehler gemacht.
Welche?
Schulz: Wir hätten etwa gemeinsam mit der Agenda 2010 den Mindestlohn einführen müssen. Ich glaube, das hätte dem eben angesprochene Ungerechtigkeitsempfinden entgegengewirkt. Das müssen wir Sozialdemokraten erkennen. Wir haben aber inzwischen das Jahr 2017 und sind klüger geworden. Und: Die Agenda wurde 2003 verabschiedet. Wir müssen mehr über die Zukunft sprechen.
Gehört zu solchen Fehlern auch, dass sich der damalige Bundeskanzler Schröder mit einer dicken Zigarre im Fernsehen zu Thomas Gottschalk aufs Sofa setzt?
Schulz: Ach Gott, das ist wirklich sehr lange her. Es geht um die Zuwendung zum einzelnen Menschen als Individuum. Wir müssen den Menschen zeigen, dass wir es ernst meinen, dass wir den Menschen in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen. Das ist vernachlässigt worden, nicht nur von der SPD. Wir haben eine gesamtgesellschaftliche Entfremdung erlebt, die auch dem Zeitgeist geschuldet war. Dabei sind wir Politiker in der Verantwortung, im Bauch zu fühlen, was die Menschen bewegt. Ein Beispiel: Als Europa- oder Bundespolitiker reden Sie ständig von Milliarden-Beträgen. Darüber verliert man den Blick dafür, dass für 99 Prozent der Menschen 1000 Euro eine gewaltige Summe sind. Wir müssen den Menschen verdeutlichen, dass die Milliarden-Debatten ihren Ursprung in eben diesen 1000 Euro haben. Wenn es etwa um Geld für Krankenhäuser, Kindergärten oder Schulen geht.
Bislang ist es seit Ihrer Nominierung um große Überschriften gegangen. Wie lange können Sie das im Wahlkampf durchhalten, ohne konkrete politische Projekte zu benennen?
Schulz: Ich interessiere mich nicht für Taktik. Ich glaube auch nicht, dass ich den Wahlkampf choreographieren muss. Wenn ich sage, dass ich Menschen und ihre Nöte ernstnehmen will, dann muss ich ihnen zuhören, bevor ich ein Programm entwickele. Ich reise derzeit durchs Land und rede mit normalen Menschen — nicht nach dem Rezept einer Bestellblock-Demokratie: „Was hätten Sie denn gerne?“, sondern ich höre zu. Was sind die realen Probleme? Was erwarten die Menschen von uns? Und das, was ich gehört habe, nehme ich mit in die Arbeit an unserem Programm.
Dennoch erhöht sich doch der öffentliche Druck. Vieles läuft auf den Parteitag im März hinaus. Die Erwartungshaltung ist: „Da muss er liefern!“
Schulz: Wo gibt es diese Erwartungshaltung? In Zeitungsredaktionen? (lacht)
Nicht nur da, auch im Bekanntenkreis von Zeitungsredakteuren.
Schulz: Wir arbeiten an unserem Programm — seriös und nicht aufgrund des Drucks aus Bekanntenkreisen von Zeitungsredakteuren. Das heißt ja nicht, dass wir keine konkreten Ideen haben. Wenn ich beispielsweise über eine künftige Steuerpolitik nachdenke, dann weiß ich, was der Anspruch der SPD sein muss. Ich will eine Steuerpolitik, die Menschen, die hart arbeiten, nicht schlechter stellt als solche, die ihr Geld für sich arbeiten lassen können. Wir werden ein Steuerkonzept vorlegen, das sich an dieser Linie orientiert. Auch wenn der Bekanntenkreis ein wenig ungeduldig ist: Die Antworten werden kommen, aber ich erarbeite sie seriös.
Wie sieht Ihre Strategie gegen die AfD aus? Geht es vor allem darum, Modernisierungsverlierer zu stärken?
Schulz: Mit dem Begriff „Modernisierungsverlierer“ wäre ich vorsichtig. Ich richte mich an viele Menschen, die objektiv keine Verlierer der Modernisierung sind, aber auch noch nicht die Gewinner. Unser Land ist stark, die Export-Überschüsse sind gigantisch, wir haben großes wissenschaftliches Innovationspotenzial und wettbewerbsfähige mittelständische Betriebe. Die Grundvoraussetzungen sind also gut, um Menschen zurückzugewinnen, die sich von der Globalisierung bedroht fühlen und zu Extremisten gelaufen sind.
Wollen Sie den paternalistischen Streit wiedereinführen?
Schulz: Gegen Bedrohungs- und Abstiegsängste hilft das Motto „Privat statt Staat“ nicht. Schutzfunktionen in der Gesellschaft, die wir dringend brauchen, sind zerstört worden. Die Verachtung der Tarifpartnerschaft, die Flexibilisierung der Wirtschaft durch Zeitarbeit, um Tarifarbeitsplätze abzubauen, müssen wir beenden; denn sie sind Ursachen für diese Ängste. Und die können wir mit der Rückkehr zur bewährten Sozialpartnerschaft verringern. Es muss das Grundprinzip gelten: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. So kann die SPD Vertrauen zurückgewinnen.
Und die AfD bekämpft werden?
Schulz: Die Strategie gegen die AfD heißt: Demokratie bewahren durch Abgrenzung. Die AfD hat einen Mann wie Björn Höcke, der das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnet. Die AfD schließt diesen Mann nicht aus, weil sie ihn behalten will, weil sie weiß, welches Wählersegment er anzieht. Das ist keine Alternative für Deutschland, sondern eine Schande für die Bundesrepublik. Da hilft nur eine klare Haltung: Ihr gehört nicht zum demokratischen Spektrum. Die verehren Marine Le Pen von der Front National. Eine Nationale Front hatten wir schon mal in Deutschland; wohin die geführt hat, ist bekannt.
Wer sind die AfD-Wähler?
Schulz: Sie müssen mit den Menschen reden, um herauszuhören, wer das ist und warum. Da sind Hardcore-Rechte, die es immer schon gab, aber auch viele Zweifelnde, die keineswegs Demokratiefeinde sind; die kann man zurückgewinnen.
Wie?
Schulz: Viele von denen wählen ganz stark aus einem Gefühl heraus und nicht aufgrund einer rationalen Erwägung. Sie fühlen sich nicht respektiert. Sie haben den Eindruck, sie seien uns irgendwie egal, sie zählten nichts. Da setze ich an; ich habe nicht immer sofort eine Lösung, aber sage den Leuten klar: Ich interessiere mich für Dich. Alle Demokraten müssen ein Interesse daran haben, diese Menschen nicht zu verlieren.
Sie kümmern sich um die Verängstigten, und die Union rückt in der Flüchtlingspolitik ein wenig nach rechts: Ist das ein Mittel gegen die Rechtspopulisten?
Schulz: Ich rate auf jeden Fall dazu, die Terminologie der Demokratiefeinde nicht zu übernehmen. Ich grenze mich gegen die kategorisch ab. Die CDU wird sowieso ihre Doppelstrategie nicht auf Dauer durchhalten: auf Parteitagen das CDU-Parteibuch hoch halten und in der Bundesregierung das SPD-Grundsatzprogramm beschließen. Aber ich kann mich nicht auch noch um die inneren Widersprüche in der Union kümmern.
Es gibt den Vorwurf an Sie, ausgerechnet jemand aus dem „Demokratie-Monster Brüssel“ wolle erklären, wie man mit dem „kleinen Mann“ umgeht.
Schulz: Ich höre immer wieder die gleichen drei Vorwürfe: „Europa-Fuzzi“, „Provinz-Heini“ und „ohne Abitur“. Was ich als Fraktionsvorsitzender und Präsident im Europaparlament gelernt habe, kommt mir in Berlin zugute: unmittelbar und direkt mit Menschen zu reden. Ich habe jeden Tag alle möglichen Leute angerufen — vom Bezirksvorsitzenden bis zum Staatspräsidenten. Wenn Sie eine multinationale Parlamentsfraktion mit Abgeordneten aus 28 Nationen und mehr als 30 Parteien zum Konsens bringen wollen, müssen sie dialog- und kompromissfähig sein. Ich weiß, wie Deutschland in Europa und Europa in Deutschland gesehen wird.
Und der „Kommunal-Heini“?
Schulz: Rente, Arbeitslosigkeit, Pflegeversicherung, Kita, Schule, Sportplatz, öffentliche Sicherheit, Altenheim, Abwassergebühren, Verkehrspolitik — all das landet im Rathaus. Ich war elf Jahre lang Bürgermeister und habe all das gemacht. Jetzt muss ich mir von Leuten anhören, ich sei ein Provinz-Heini. Ja, ich komme aus der Provinz; ich kenne die Alltagsprobleme. Und das ist nichts Schlechtes. Und dann die Frage: Kann ein Mann ohne Abitur Bundeskanzler werden? Am 24. September gibt es die Antwort: Ja.
Zu den Alltagsproblemen hier in der Region gehört das Kernkraftwerk in Tihange. Was wäre von einem Bundeskanzler Schulz in dieser Frage zu erwarten?
Schulz: Es ist eine souveräne belgische Angelegenheit, aber die Gefährdung, die von diesem Kernkraftwerk möglicherweise ausgeht, muss ernst genommen werden. Tihange kann nicht dauerhaft am Netz bleiben, wenn die offenen Sicherheitsfragen nicht ausgeräumt sind. Also muss ich als Bundeskanzler mit der belgischen Regierung reden und die Sorgen der Menschen in der Region dort nachdrücklich zum Ausdruck bringen.
Aktuell gibt es besondere außenpolitische Herausforderungen: Trump, Erdogan, Putin, der Brexit, die notorische Uneinigkeit in der EU. Die deutsche Außenpolitik muss mehr denn je verlässlich und vertrauenswürdig sein. Wäre das mit einer Bundesregierung, an der die Linke beteiligt ist, zu gewährleisten?
Schulz: Wer mit einem Kanzler Schulz koalieren will, muss sich nach den Grundsätzen der größten Regierungspartei richten. Eine Regierung unter meiner Führung würde nicht nur zur EU stehen, sondern würde die revitalisierte deutsch-französische Kooperation als Achse nutzen, um die Europäische Union zu vertiefen. Ich will ein stärkeres und besseres Europa, das nach einer klaren Kompetenzordnung handelt. Was in Brüssel nicht gemacht werden muss, davon sollte die EU die Finger lassen. Zweiter Grundsatz ist die feste transatlantische Partnerschaft nicht nur mit den USA und Kanada, sondern auch mit Südamerika. Drittens müssen wir die sicherheitspolitische Zusammenarbeit in der EU stärken. Das alles ist ganz klar. Daran muss sich jeder Koalitionspartner orientieren.
Trauen Sie das der Linken zu?
Schulz: Die Entwicklung dort ist offen. Die Linke diskutiert über diese Fragen sehr kontrovers. Ich beobachte das aufmerksam.
Was halten Sie vom Vorschlag des SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann, Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer nach Nordafrika zurückzubringen?
Schulz: Wir müssen erstmal genau sehen, was die Partnerländer dort leisten können. Tunesien ist in Nordafrika vielleicht der zuverlässigste demokratische Staat und deshalb auch Hauptziel des IS. Kein Land leidet mehr unter dessen Terror. Kann dieses Land Aufgaben übernehmen? Diese Frage müssen wir ganz sorgfältig untersuchen. In Zentralafrika gibt es nach wie vor große Probleme; wir müssen im Sommer wieder mit verstärkten Fluchtbewegungen rechnen. Wir müssen auf jeden Fall verhindern, dass Schlepper Hochkonjunktur haben und es erneut tausende Tote im Mittelmeer gibt. Deshalb ist die Kooperation mit den nordafrikanischen Ländern nötig — unter rechtsstaatlichen und humanitären Kriterien.
Wie soll das gelingen, wenn die EU-Staaten es nicht mal schaffen, eigene Beschlüsse umzusetzen? Vor einem Jahr wurde vereinbart, 160 000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland auf die einzelnen Länder zu verteilen; bis heute ist das gerade mal für 12 000 gelungen.
Schulz: Das ist exakt das Problem: Von Gipfel zu Gipfel werden neue Maßnahmen beschlossen. Wie kann ich mit den nordafrikanischen Staaten zu Vereinbarungen kommen, wenn wir uns selbst an eigene Beschlüsse nicht halten. Die Haltung einzelner EU-Regierungen ist: „Das ist ein deutsches Problem; damit haben wir nichts zu tun.“ Das ist eine Provokation. Das kann man nicht hinnehmen. Darauf muss ein deutscher Regierungschef klipp und klar antworten: Das ist nicht nur ein deutsches Problem, sondern eine europäische Herausforderung. Solidarität ist ein Grundprinzip der EU. Wir sind ein solidarisches Land.
In der Flüchtlingspolitik lässt die europäische Solidarität zu wünschen übrig.
Schulz: Wenn sich die Osteuropäer bedroht fühlen, helfen wir ihnen. Wenn sie wirtschaftliche Hilfe brauchen, unterstützt die EU sie sehr umfangreich. Wenn jemand bei Finanzhilfen immer „Ja, bitte“ sagt, aber bei der Solidarität mit Menschen „Nein, danke“, müssen wir die europäische Subventionspolitik mit der Flüchtlingsfrage verknüpfen. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, der mich als größte Gefahr für Europa bezeichnet hat, weigert sich, 1920 Flüchtlinge in seinem Land aufzunehmen. Das würde dem beschlossenen Verteilungsschlüssel entsprechen. Er spricht von einem Diktat aus Brüssel und Berlin. Darauf muss man doch mal eine Antwort geben. Als Kanzler würde ich sagen: Wir sind weiter zur Solidarität bereit, aber diese Haltung nehmen wir nicht hin.
Bringt Trump die Europäer wieder näher zusammen?
Schulz: Ich glaube schon. Viele erkennen jetzt klarer, dass die auf Grundwerten basierende Gemeinschaft von Demokratien und Demokraten das beste politische Konzept ist. Von Trump kann man lernen, wie man Wahlkampf auf keinen Fall führen darf, wenn man die Grundelemente des Respekts in der Demokratie nicht mit Füßen treten will. Den politischen Gegner verächtlich machen, ihn diskreditieren — das wird hoffentlich nicht der Stil im deutschen Wahlkampf. Mit mir wird es das nicht geben. Jeder Demokrat hat Respekt verdient.