Wahlbeteiligung legt zu: Die neue Lust am Kreuzchen
Bei der Saarland-Wahl gingen deutlich mehr Wähler zur Urne - regionale Sondererscheinung oder bundesweiter Trend?
Berlin. Bei der jüngsten Landtagswahl im Saarland hat neben der Union auch die Demokratie gewonnen: Die Wahlbeteiligung legte um gut acht auf fast 70 Prozent zu. So viel wie seit 1994 nicht mehr. Ist das nur eine regionale Sondererscheinung oder steckt dahinter ein bundesweiter Trend?
Für den Historiker Götz Aly steht fest: „Es sind die aktuellen Krisen auf der Welt vom Brexit über Trump, Putin, Erdogan bis zur Flüchtlingsfrage und der wohl dauerhaften terroristischen Bedrohung, die die Wähler bewegen und an die Wahlurnen treiben“, schrieb er am Dienstag in einem Pressebeitrag. Tatsächlich verzeichnet die Statistik nicht erst seit dem jüngsten Wahlsonntag ein zunehmendes politisches Interesse in der Republik.
Schon im vergangenen Jahr gab es insgesamt fünf Landtagswahlen, und stets gingen dabei mehr Menschen in die Wahllokale als beim letzten Mal. Baden-Württemberg und Berlin verzeichneten ein Plus von 4,1 beziehungsweise 6,7 Prozent. In Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern machten sogar jeweils rund zehn Prozent mehr Menschen ihre Kreuzchen.
Die Gründe sind allerdings nicht nur der internationalen Großwetterlage geschuldet. So war die hohe Wahlbeteiligung in Sachsen-Anhalt und „ MeckPom“ vor allem vom Prostest gegen die etablierten Parteien getrieben — die rechtspopulistische AfD vermochte viele Nichtwähler zu mobilisieren und kam aus dem Stand auf jeweils über 20 Prozent der Stimmen. Verlierer waren die Volksparteien Union und SPD, die zum Teil kräftig Federn lassen mussten.
Interessant an der Saar-Wahl ist, dass das Pendel nun offenbar zurückschlägt: „Es gibt konjunkturelle Einmaleffekte und strukturelle Gründe für eine bestimmte Wahlbeteiligung“, erläuterte Robert Vehrkamp, Politologe bei der Bertelsmann-Stiftung, im Gespräch mit unserer Redaktion. Seit dem letzten Jahr beobachte man eine strukturell höhere Wahlbeteiligung, die mit einer stärkeren Politisierung im Zuge des Aufschwungs der AfD zusammenhänge. Nun erlebe man „tatsächlich einen Trend, der sich als Gegenmobilisierung der politischen Mitte als Reaktion auf die Mobilisierung der Populisten beschreiben lässt“.
Davon profitierten vor allem Union und SPD, zumal sie durch den Schulz-Effekt auch wieder stärker unterscheidbar geworden seien, analysierte Vehrkamp.
Dagegen sieht Matthias Jung von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen in der gewachsenen Wahlbeteiligung „weder eine Trendwende noch eine Eintagsfliege“. Noch vor ein paar Jahrzehnten habe eine soziale Norm gegolten, prinzipiell zur Wahl zu gehen, egal wie wichtig sie sei. Heute beteilige man sich nicht mehr daran, „weil es sich so gehört, sondern, wenn man den Eindruck hat, dass es auf jede Stimme ankommt“, sagte Jung unserer Redaktion. „Wir hatten jetzt im Saarland eine große Mobilisierung, weil es darum ging, die große Koalition beizubehalten, oder sie durch Rot-Rot abzulösen“. Nach Jungs Einschätzung wird die Wahlbeteiligung auch in Zukunft „situationsabhängig“ sein.
Und was bedeutet das für die kommende Bundestagswahl? „Es spricht einiges dafür, dass der Trend steigender Wahlbeteiligungen sich weiter fortsetzen könnte“, glaubt Stefan Merz vom Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap. Bei den letzten beiden Bundestagwahlen war die Beteiligung mit jeweils kaum mehr als 70 Prozent der Stimmberechtigten allerdings auf einen historischen Tiefststand gesunken.