Analyse Was die Digitalisierung und das Ende von Jamaika miteinander zu tun haben
Verhandeln, twittern, verhandeln, senden, verhandeln, posten: Wie das Internet der Demokratie den Atem raubt.
Düsseldorf. Es ist Montagnachmittag um kurz nach zwei, als FDP-Parteichef Christian Lindner und sein Vize Wolfgang Kubicki wieder in den Ring steigen. Pressekonferenz nach der Bundesvorstands- und Fraktionssitzung. Natürlich auch live auf der FDP-Facebookseite zu sehen.
Die Kommentare purzeln schon während der Übertragung im Sekundentakt: „Nie wieder Zweitstimme für diesen Kasperleverein. Lindner muss weg“, im Gegenzug „Alle Achtung. Endlich eine Partei mit Eiern“, und so weiter. Am Ende der Konferenz sind es bereits mehr als tausend Meinungsäußerungen, dazu weit über 3000 Kurz-Reaktionen: Daumen hoch, Herzchen, Wut-Emoji.
Auch auf der Fotoplattform Instagram und im Kurznachrichtendienst Twitter toben die Schlachten. Der Slogan „Lieber nicht regieren als falsch“ wird von der FDP gleich in alle Kanäle gespült. Es ist ein Kampf um die Deutungshoheit über das Scheitern der Sondierung. Die Online-Teams haben Hochkonjunktur, denn das Netz ist ein doppeltes Monster: unersättlich in der Gier nach immer neuer Fütterung, die unverdaut in Echtzeit wieder ausgespuckt wird. Rein, raus, rein, raus, rein, raus. Und alle spielen mit: die Parteien, die Medien, die privaten Nutzer.
Die FDP gilt als eine der Parteien, die dieses irre Spiel besonders gut beherrschen. Digitalisierung ist modern, ist Zukunft, Freiheit, Start-up, irgendwie so was. Auf jeden Fall: Digitalisierung ist Lindner.
Aber vielleicht ist es auch gerade deswegen kein Zufall, dass die FDP diejenige Partei ist, die die Sondierungen zum Platzen gebracht hat. Wer sich besonders intensiv den kurzatmigen Vibrationen der Netzgemeinde aussetzt, ihre Mechanismen bedient und mit ihnen spielt, dem droht irgendwann der lange Atem für die analoge Welt verloren zu gehen.
Der Soziologe Harald Welzer warnt in seinem Buch „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“ vor einer Erosion der Demokratie durch die Folgen der Digitalisierung. Damit meint er nicht nur den Missbrauch von Daten und den Verlust des Privaten. Er bezieht sich auch auf die Debattenkultur, die Fähigkeit eines demokratischen Austauschs jenseits des lautesten Geschreis.
„Unter den gegebenen Bedingungen befördert die ,Internetdemokratie’ in den westlichen Gesellschaften fast zwangsläufig die Banalisierung des politischen Diskurses und die Neutralisierung des Denkens“, schrieb der Publizist Magnus Klaue schon vor einem Jahr in der „FAZ“. „Eine stärkere Kontrolle der Sozialen Medien, sei es durch juristisch fixierte oder selbst auferlegte Regeln, kann dieses Problem vielleicht eindämmen, an den Bedingungen, die es hervorgebracht haben, ändert sie wenig.“
Seit eine weltweite Supermacht wie die USA von ihrem Präsidenten maßgeblich über Twitter-Launen gesteuert wird, stehen die Verheißungen einer demokratischen Breitenwirkung des Internets zwar stärker in Zweifel als je zuvor. Aber dem Sog des Digitalen kann und will sich niemand widersetzen. In Berlin konnten die Verhandlungen noch so weit in die Nacht hinein gedauert haben, am Ende wankten Katrin Göring-Eckardt oder Cem Özdemir noch vor irgendeine Parteikamera, um mit einem flotten Video die Netzgemeinde zu bedienen.
Man kann diese Social-Media-Fixierung als positive Veränderung der politischen Kommunikation deuten. Harald Welzer sieht sie kritischer: „Die Auflösung der Demokratie geschieht im Rahmen der Demokratie.“