Bildung im Schneckentempo
Zwischenbilanz: NRW wird bis 2010 das internationale Niveau nicht erreichen, sagen Wissenschaftler.
Düsseldorf. Wissenschaftler sowie Gewerkschafter von DGB und GEW schlagen Alarm: Das nordrhein-westfälische Bildungssystem entpuppt sich im internationalen Wettlauf als Schnecke. "Wir gehen zwar in die richtige Richtung. Aber wir holen nicht auf, sondern fallen weiter zurück", brachte es der Essener Bildungsforscher Professor Klaus Klemm gestern in Düsseldorf auf den Punkt. NRW sei zwar auf dem Weg zur modernsten Wissensregion Europas. Doch sein dreigliedriges Schulsystem leiste nicht das, was nötig wäre, um zu anderen bedeutenden Industrieländern aufzuschließen, so seine Zwischenbilanz zum "Bochumer Memorandum".
"Bei zentralen Bildungsindikatoren ist absehbar, dass NRW bis zum Jahr 2010 nicht einmal den OECD-Durchschnitt von 2003 erreichen kann", prognostizierten Klemm und sein Mainzer Kollege Rainer Block mit Blick auf die Politik sowohl der derzeitigen schwarz-gelben Regierung als auch der rot-grünen Vorgängerregierung. Der Rückstand bleibe zum Teil "auf Jahrzehnte zementiert". Anspruch und Wirklichkeit klafften derzeit noch weit auseinander. Ein Überblick:
Derzeit erreichen in Deutschland von 100 Kindern, deren Väter einen Hochschulabschluss besitzen, 88 die Sekundarstufe II und 83 den Hochschulzugang. Von 100 Kindern nicht-akdademischer Väter kommen nur 46Prozent in die gymnasiale Oberstufe, 23Prozent erlangen die Hochschulreife. Daten zur sozialen Selektivität der Schulen in NRW liegen nicht vor. Doch aufgrund der neu eingeführten verpflichtenden Grundschulgutachten befürchtet Klemm, dass Arbeiterkindern der Zugang zu höherer Bildung weiter erschwert wird. "Alle relevanten Studien belegen, dass sich die Gutachten von Lehrern nicht allein an leistungsbezogenen, sondern gerade auch an sozialen Kriterien wie dem Bildungsniveau und dem Berufsprestige der Elternhäuser orientieren", schreiben die Wissenschaftler in ihrer Zwischenbilanz.
Im Memorandum wird der Ausbau der Betreuungsangebote für unter Dreijährige auf 20Prozent (entspricht rund 90000 Plätzen) bis 2010 angepeilt. Im Gegensatz zum Jahr 2000, wo NRW nur 10000 Einrichtungsplätze bereithielt, gab es 2006 mit 25 000 Plätzen und einer Versorgungsquote von 5,4Prozent messbare Fortschritte. "Doch NRW liegt damit weiterhin unter dem westdeutschen Durchschnitt von 6,6 Prozent", schränkte Klemm ein.
Mehr als ein Viertel aller 15-Jährigen in NRW wiederholt im Verlauf der Schulkarriere mindestens einmal eine Klasse. "Das kostet viel Geld und bringt wenig", betonte Klemm. Den Forschern zufolge muss der Anteil deshalb bis 2010 zumindest halbiert werden. Dennoch ist die Quote der Klassenwiederholer etwa an Hauptschulen von 2003 (5,4 Prozent) nur auf 4,8 Prozent im Jahr 2006 gesunken. Die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss sank im gleichen Zeitraum von 6,8 auf 6,6Prozent.
Der einzige Lichtblick: Seit Jahren hat NRW im Bundesvergleich die höchste Quote bei der Anzahl der Studienberechtigten. 2005 konnte gut jeder zweite 18- bis 21-Jährige ein Abitur oder Fachabitur vorweisen. Bis zum Jahr 2010 dürfte die OECD-Quote von 61Prozent in NRW sogar überschritten werden.
Kritik an der Zwischenbilanz übte das Schulministerium. Danach sei das Zahlenmaterial "in wesentlichen Teilen veraltet". Von einer "falschen Bildungspolitik von CDU und FDP" sprach derweil die Vize-Chefin der SPD-Landtagsfraktion, Ute Schäfer.
"Zukunft Bildung" Im Februar 2005 hatten sich Wissenschaftler und Gewerkschafter auf dem Kongress "Zukunft Bildung" auf das Bochumer Memorandum verständigt. Darin wurden Zielvorgaben formuliert, die das Bildungssystem in NRW bis zum Jahr 2010 international fit machen sollen.
Zwischenbilanz Nach der Hälfte der Zeit wurden nun die damals formulierten Zielmarken mit Datensätzen aus dem Zeitraum 2003 bis 2006 verglichen.