Deutschland und die Türken: Die Woche der verpassten Chancen

Kein deutscher Politiker erschien am Dienstag bei einer türkischen Trauerfeier für Opfer des rassistischen Amoklaufs in München. Zugleich verniedlicht die NRW-Landesregierung die geplante Pro-Erdogan-Demonstration zur Meinungsäußerung. Und macht damit aus einem Politik- ein Polizei-Problem.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nutzte schon 2011 einen Auftritt in Düsseldorf im ISS Dome, um Wahlkampf zu machen. Fotos: dpa

Foto: Henning Kaiser

München/Köln. Gäbe es irgendwo einen „Verein für deutliche Aussprache“, so würde Georg Anastasiadis dort wohl ein führendes Amt bekleiden. Der Münchner Journalist kommentiert im konservativen „Münchner Merkur“ (neuerdings als Chefredakteur) mit klaren Worten, was in der Stadt, in Bayern und dem Rest der Welt so vor sich geht. In dieser Woche wählte er für einen Kommentar die Überschrift: „Trauerfeier für Münchens türkische Amok-Opfer: Verpasste Chance“.

Damit meinte Anastasiadis nicht den Staatsakt, der am Sonntag um 18 Uhr im Plenarsaal des Bayerischen Landtags mit Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU), Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stattfinden wird, sondern eine Trauerfeier am vergangenen Dienstag bei der Türkisch-Islamischen Gemeinde an der Sendlinger Schanzenbachstraße.

Am Sonntag sollen in Köln an verschiedenen Orten Demonstrationen zum Putschversuch in der Türkei stattfinden.

Foto: Grafik: klxm.de

Dort kamen im Innenhof des Gemeinde-Gebäudes rund 500 Menschen zusammen, um von Sevda D. (45) und Selcuk K. (15) Abschied zu nehmen, deren Leichname dort aufgebahrt waren. Die beiden türkischstämmigen Opfer des rechtsextremistischen Amok-Mörders wurden von ihm am Freitag vor einer Woche in der McDonald’s-Filiale am Olympia Einkaufszentrum niedergeschossen. Der 18-Jährige tötete nach rassistischem Muster ausschließlich Muslime. Mit neun Menschen hat der Rechtsextremist damit an einem Tag mehr Muslime gezielt getötet als die rechtsextremistische Terrorzelle „NSU“ der Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in mehreren Jahren. Dass der Amok-Lauf von München am Jahrestag des Breivik-Massakers das bislang schwerste anti-muslimische Gewaltverbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik ist, ging in der öffentlichen Wahrnehmung fast vollständig unter.

Im Gespräch mit dem „Merkur“ beklagte der Witwer von Sevda D. nicht nur die Behandlung seiner Familie durch die Polizei, sondern auch, dass sich bis zum Montag niemand bei ihm gemeldet hatte. Nicht von der Stadt, nicht vom Land, überhaupt kein Offizieller. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) verteidigte sich, er habe nicht direkt nach dem Amoklauf unangemeldet bei den Familien auftauchen wollen, deshalb habe er zunächst einen Brief geschrieben und dann ein persönliches Treffen am Dienstagabend gehabt.

Ein Offizieller meldete sich doch bei Haci D. und kondolierte dem Witwer. Telefonisch, aber immerhin persönlich: der türkische Außenminister. „Die Trauerfeier am Dienstag für die von einem Amokläufer getöteten jungen Deutsch-Türken wäre für Münchner und bayerische Politiker eine gute Gelegenheit gewesen zu zeigen, dass man Anteil nimmt, dass die türkischstämmigen Opfer und ihre Familien doch dazugehören. Man hat sie leider verstreichen lassen. Und die Menschen einmal mehr dem Verführer Erdogan in die offenen Arme getrieben“, kommentierte Georg Anastasiadis und machte seinem Frust über einen bitteren Befund Luft: Viele Deutsche und Türken seien sich, obwohl sie seit Jahren oft Tür an Tür lebten, fremd geblieben.

Zuwanderer schauten türkisches TV, so Anastasiadis, Bräute würden wie früher aus der alten Heimat importiert und verstorbene Angehörige, auch wenn sie seit ihrer Geburt in Deutschland gelebt hätten, in türkischer Muttererde begraben. Und umgekehrt hätten Kinder türkischer Eltern bei uns oft keine Chance, wenn sie mit Konkurrenten mit deutschem Namen um Wohnung oder Job konkurrierten. „50 Jahre nach der großen Gastarbeiterwelle leben Deutsche und Zuwanderer vom Bosporus in parallelen Welten. Es gibt Ausnahmen, gewiss. Aber es sind zu wenige“, so Anastasiadis. Nun rächt es sich, dass die deutsche Politik seit Jahren schweigend zugesehen hat, wie Erdogan und seine AKP-Statthalter in Deutschland die Integration türkischstämmiger Menschen systematisch hintertrieben und als Menschenrechtsverstoß denunziert haben. Bei seinen Wahlkampfauftritten in Deutschland, immer organisiert von der „Union Europäisch-Türkischer Demokraten“ (UETD), warben Erdogan und seine Mitstreiter nicht nur um Stimmen, sondern auch darum, dass türkischstämmige Deutsche vor allem Türken bleiben sollten.

Als der damalige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu im Mai 2015 in den Dortmunder Westfalenhallen vor 15 000 Besuchern auftrat, hatte er nicht bloß Folklore im Gepäck. Allein bei diesem Besuch brachte er einen ganzen Katalog von geldwerten Regierungs-Ankündigungen mit, der Türken im europäischen Ausland fest an die Türkei binden soll. Davutoglu versprach finanzielle Erleichterungen im Zusammenhang mit Militärdienst-Befreiung, niedrigere Pass-Gebühren, längere Nutzung ausländischer Fahrzeuge und Telefone in der Türkei, Rabatte für Familienflüge in die Türkei, Geburtenförderung und Kindergeldzuschüsse für Mütter mit türkischem Pass in Europa; immerhin 600 türkische Lira (knapp 180 Euro) für das dritte Kind.

Spätestens seit der Böhmermann-Affäre im März kennen Erdogans Helfershelfer in Deutschland, sei es in Talkshows, politischen Statements oder Forderungen, nur noch den Tonfall der Anmaßung und der Unverschämtheit. Aus den Niederlanden ist eine Konsulats-Mail bekannt, in der Türken aufgefordert wurden, „hochnäsige, hasserfüllte und beleidigende Äußerungen über unseren verehrten Präsidenten“ zu melden.

Nach der Armenier-Resolution des Deutschen Bundestags, in der der osmanische Völkermord an den Armeniern erstmals Völkermord genannt wurde, sahen sich Abgeordnete und Parlament einer bis dahin beispiellosen Hetze aus türkischen Kreisen ausgesetzt. Die UETD distanzierte sich auch nicht von Mordaufrufen, nachdem Erdogan für elf türkeistämmige Abgeordnete aus den Reihen von CDU, SPD, Grünen und Linken einen Bluttest forderte, da ihr Blut wohl „verdorben“ sei.

Der Grünen-Politiker Volker Beck erklärte am Donnerstag, die Demonstration der UETD am Sonntag in Köln erwecke den Eindruck einer „nationalistischen Machtdemonstration“ und verlangte, dass die UETD sich von Erdogans willkürlichen Repressalien distanziere. Sonst werde die Kundgebung „als Demonstration für eine Diktatur Erdogans in der Türkei verstanden werden“.

Derweil erging sich Bülent Bilgi, Generalsekretär der UETD, laut „Express“ in plumpen Drohungen: Werde den Veranstaltern eine Großleinwand verboten, dann sei „vieles möglich“, es werde in der türkischen Community gemunkelt, dass dann Präsident Erdogan selbst kommen könne. Der Kölner Polizeipräsident Jürgen Mathies hatte am Freitag den Einsatz einer Videowand untersagt, auf der Redebeiträge aus der Türkei nach Köln eingespielt werden sollten. Er verlangte von den Organisatoren eine Rednerliste.

Doch das Kölner Verwaltungsgericht gab der UETD teilweise recht und entschied, dass eine Leinwand aufgebaut werden dürfe, allerdings nur zur Übertragung von Reden vor Ort, nicht für Übertragungen aus der Türkei.

Die rot-grüne Landesregierung drückte sich am Freitag weiter davor, die Veranstalter darauf hinzuweisen, dass sie sich nicht auf das Recht der Versammlungs-Freiheit des Grundgesetzes berufen können. Anders als das Jedermann-Recht der freien Meinungsäußerung (Artikel 5: „Jeder hat das Recht, seine Meinung. . .), ist das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ein reines Deutschen-Recht (Artikel 8: „Alle Deutschen haben das Recht. . .“). Stattdessen ersetzte NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) eine eindeutige politische Haltung durch die polizeiliche Androhung, man werde bei Straftaten und Hetze hart durchgreifen.

Auch bei einem Verbot, das bis Sonntag immer noch möglich ist, hat Erdogan das Ziel der Spaltung zwischen Deutschen und seit Jahren und Jahrzehnten hier lebenden Türken weitgehend erreicht. Der münsterländische CDU-Politiker Jens Spahn stellte am Freitag die doppelte Staatsbürgerschaft infrage: Wer für Erdogan und die AKP auf die Straße gehen wolle, solle das in der Türkei tun, so Spahn im „Tagesspiegel“. Und weiter: „Und dem müssen wir eine klare Entscheidung abverlangen.“