Im Gespräch mit dem SPD-Fraktionschef Jochen Ott: „Die Grünen können nicht regieren!“

Der SPD-Fraktionschef spricht über die NRW-Landesregierung, eine neue Erbschaftssteuer und die Fehler der Schuldenbremse

„In Sachen Bildung ist ja wissenschaftlich belegt, dass wir in NRW zu wenig Geld dafür ausgeben“, sagt SPD-Fraktionschef Jochen Ott.

Foto: JA/Andreas Fischer

Herr Ott, was macht der Bundeskanzler bei der Führung der Ampel in Berlin falsch?

Jochen Ott: Olaf Scholz macht im Gegensatz zu Ihrer Frage sehr viel richtig. Drei Monate nach seinem Amtsantritt war die Welt eine vollkommen andere. Russlands Krieg gegen die Ukraine, Energiekrise, Wiederaufbau der Bundeswehr. Zeigen Sie mir einen Kanzler, der in so kurzer Zeit so viel stemmen und leisten musste, wie er. Macht er dabei alles richtig? Wer macht das schon? Hier und da fehlt es mitunter an der emotionalen Ansprache. Dass Olaf Scholz sie beherrscht, hat er in den richtigen Momenten aber auch schon oft bewiesen. Hinzu kommt: Unter Angela Merkel ist auch tatsächlich alles ausgesessen worden, was möglich war. Da ist viel aufzuholen.

Hat Merkel das nicht mit der SPD zusammen ausgesessen?

Ott: Die CDU hat es in der Groko ausgesessen, die SPD hat ja nachgewiesenermaßen in dieser Koalition am meisten durchgesetzt. Wenn wir heute sehen, wie Infrastruktur und Gesundheitssystem und so viele andere Bereiche aussehen, dann ist es doch katastrophal, dass wir seinerzeit in einer Niedrigzinsphase keinerlei Geld aufgenommen haben. Angesichts dessen hat die Ampel jetzt innerhalb von zwei Jahren wahnsinnig viel angestoßen.

Also alles gut in Berlin unter SPD-Führung?

Ott: Das habe ich nicht gesagt. Wie manche im Social-Media-Zeitalter miteinander reden, geht gar nicht. Insbesondere Grüne und FDP. Denn eines ist auch klar: Die SPD-Spitze, die – anders aufgestellt – jahrelang in Sachen Streit Schlagzeilen geschrieben hat, ist heute einig wie selten. Und wenn die Fraktion – wie auch wir in NRW – für einen Industriestrompreis wirbt und der Kanzler das anders sieht, ist das ein gutes Zeichen dafür, dass die Diskussionskultur stimmt. Die Abgeordneten sind ja kein Abnickverein, sondern machen dem Kanzler auch Ansagen. Das war auch unter Brandt schon so – und es war gut so.

Sie haben auch als Fraktion klar den Industriestrompreis gewollt. Ist das, was die Regierung jetzt angekündigt hat an Steuersenkungen für belastete Unternehmen ausreichend?

Ott: Es ist auf jeden Fall ein Beleg dafür, dass es sich in der Sache immer zu streiten lohnt. Am Ende geht es nicht darum, wer sich wie durchgesetzt hat, sondern ob das, was da entschieden wurde, der Sache nützt. Und wenn ich die Reaktionen der Industrie höre, ist da auf jeden Fall ein wichtiger Schritt getan worden. Das Volumen kann sich jedenfalls sehen lassen. Jetzt müssen wir ganz genau schauen, dass es auch seinen Zweck erreicht.

Unser Befund ist: Der Streit in der Ampel geht immer weiter. Da passt etwas strukturell nicht zusammen.

Ott: Was viele nicht sehen wollen: In Zukunft werden Regierungsbildungen immer lagerübergreifend sein. Das ist in anderen europäischen Ländern längst normal. Schauen Sie auf Länder wie Niederlande oder Italien.

Grüne und FDP zerren sich die Leisten beim Spagat schon sehr.

Ott: Grüne Ministerinnen und Minister sind in Berlin wie in Düsseldorf handwerklich gesehen nicht gut. Neubaur, Habeck, Limbach, Baerbock, Paus – da werden viele Häuser heute ideologisch geführt. Das hat es unter Sozialdemokraten so nicht gegeben, weil wir die Expertise in den Häusern immer genutzt und sie nicht ideologisch ausgetauscht haben.

Ist NRW nicht etwa in Sachen Windkraft und der Transformation der Energiepolitik ansehnlich vorangekommen zuletzt?

Ott: Was bitte ist denn hier konkret wirtschafts- und industriepolitisch angestoßen worden unter Frau Neubaur? Der Netto-Zubau bei Windrädern zum Beispiel liegt 2023 bei gerade mal sechs Anlagen. Je länger sie im Amt ist, desto mehr wird deutlich, dass ihre Politik in erster Linie aus  schönen Worten besteht. Wir nehmen ja auch wahr, dass die CDU das längst als Problem in dieser Koalition empfindet. Sie ist genervt von Justizminister Limbach, Flüchtlingsministerin Paul hat von der Staatskanzlei  einen Aufpasser an die Seite gestellt bekommen. Und: Es ist ja nicht so, dass die NRW-Wirtschaft vor Begeisterung nicht in den Schlaf kommt.

Die Kommunen sind belastet wie selten zuvor. Was ist da schiefgelaufen?

Ott: Wir hatten eine einmalige Chance, das Problem der Altschulden in einer Niedrigzinsphase ein für allemal zu lösen. Das ist in der Regierung von Armin Laschet aber nicht passiert – und das ist wirklich ärgerlich. Jetzt werden wir demnächst viele Kommunen im Haushaltssicherungskonzept erleben. Und noch etwas: Warum sollte eigentlich heute noch jemand Kommunalpolitik machen, wenn er seinen Freunden und Nachbarn nur noch sagen muss, was alles nicht geht, weil die Kommunen so sehr in der finanziellen Schieflage sind? Wir haben in der Kommunalpolitik ein großes Problem.

Wie urteilen Sie über den NRW-Ministerpräsidenten?

Ott: Ich weiß nicht, wofür Hendrik Wüst überhaupt brennt. Was ist Wüsts Thema? Meine These ist, dass dieser Merkelsche Politikstil – also bloß nichts anpacken – uns in der Zeit von Krisen und Herausforderungen kaputt machen wird. Wir haben kürzlich 22 000 Menschen auf einer Demonstration vor dem Landtag gehabt. Keine alten, weißen Männer, die „spazieren gehen“, keine Studenten, die sich auf der Straße festkleben, sondern Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die für bessere Bedingungen in den sozialen Einrichtungen demonstrieren. Pfleger, Kita, Offene Ganztagsschule – die stehen da alle. Und der Ministerpräsident sagt keinen Ton dazu. Spätestens hier kann das teuerste Autobahnschild von Nordrhein-Westfalen, kann Hendrik Wüst nicht mehr sagen, dass daran Berlin schuld sei. Wüst hat einen guten Fotografen, das löst aber nicht die Probleme des Landes.

Auch die Kitaträger stöhnen, sie seien strukturell völlig unterfinanziert. Verteilt diese Landesregierung am Bedarf vorbei?

Ott: Es gibt Befürchtungen, dass bis zu einem Drittel der Kindertagesstätten im nächsten Jahr pleitegehen, wenn nichts passiert. Das ist die Situation. Seit April können viele Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Kindertagesstätte schicken. Die Landesregierung, Jugendministerin Josephine Paul, sagt schlicht nicht, wie sie sich dazu verhalten will. Nächster Punkt: Wir haben bald einen Rechtsanspruch auf den Ganztag ab dem Jahr 2026. Aber jetzt sterben die Träger! Das heißt: Das Angebot ist danach noch kleiner als vorher.

Welches Geld würden Sie denn nicht mehr wo ausgeben, um das zu lösen?

Ott: Wenn das Haus brennt, muss erstmal ein Rettungspaket her, um die Strukturen zu sichern. Die Grünen sitzen aber da und wissen nicht, was sie machen sollen. Die müssen kreativer werden! Ein Beispiel: Wir geben in Kommunen immer mehr Geld aus für wirtschaftliche Jugendhilfe, einen dreistelligen Millionen-Betrag jedes Jahr. Dabei gibt es noch zahlreiche ähnliche Angebote. Wir führen sie aber nie zusammen. Und wenn dann die NRW-Schulministerin Feller sagt, dass der Ganztag eine Sache der Jugendhilfe sein wird, weil sie es nicht in der Schule regeln und das so in die Zuständigkeit der Kommunen geben will, dann ist das schlechtes Regieren. Die Kommunen wiederum sagen: Das kann ja wohl nicht wahr sein, Bildung ist Ländersache.

Wo die Probleme da sind, muss also mit Geld gelöscht werden?

Ott: In Sachen Bildung ist ja wissenschaftlich belegt, dass wir in NRW zu wenig Geld dafür ausgeben. Und wenn wir das ändern wollen, gibt es dafür eine Lösung: eine höhere Erbschaftssteuer auf Multimillionen- und Milliardenvermögen. Das Geld käme den Ländern zugute. Dafür könnte sich die schwarz-grüne Landesregierung im Bund also stark machen, wenn sie es ernst mit der Bildung meinte.

Wenn also genug Geld da ist, dann ist alles gut?

Ott: Auf keinen Fall. Damit einhergehen muss auch ein Update unseres Systems Schule, weil es veraltet ist und wir nicht wettbewerbsfähig sind. Nicht mal die Schulministerin selber wird alle Schulformen aufzählen können, die wir in NRW haben. Wir haben Strukturen vor 40, 50 Jahren geschaffen und sind jetzt nicht in der Lage, auf neue Herausforderungen zu reagieren. Schauen Sie nach Hamburg, da hat der Bildungssenator Ties Rabe Hunderte Maßnahmen ausprobiert, um das System wieder zum Laufen zu bringen. Mit Mut, Führungsstärke und mit Erfolg: Hamburg hat ein klares Zweisäulensystem, die Lehrerarbeitszeit ist weg vom Stundendeputat, es gibt einen scharfen Sozialindex, die Stadtteilschulen haben bis zu 30 Prozent mehr Personal als die Gymnasien. Und sowohl die Kitas als auch die Grundschulen bieten vorschulische Arbeit an. Damit schneidet Hamburg in den Rankings immer weit vorne ab.

Von Hamburg lernen heißt also besser lernen?

Ott: Die NRW-Landesregierung kann es jedenfalls nicht. Hier sagt Ministerin Feller: Wir schauen uns die Kinder im Alter von Fünfeinhalb bei der Schuleingangsuntersuchung an. Was soll denn in dem halben Jahr bis zum Schulbeginn dann noch gemacht werden? Hamburg schaut sich die Kinder mit Viereinhalb an. Warum macht Frau Feller das nicht? Weil dafür dann die Kita-Ministerin Paul zuständig wäre. Das ist Kirchturmdenken aus dem letzten Jahrhundert.

Und die SPD kann das aus einem Guss denken?

Ott: Das ist eine Strukturfrage, bei der man die Scheuklappen abnehmen muss. Die Grünen können nicht regieren. Wenn es darauf ankommt, Sachen pragmatisch und lösungsorientiert umzusetzen, fehlen sie. Und ja, die SPD kann das: Immer wenn es in Deutschland schwierig war, hat die SPD die Probleme gelöst: Versailler Vertrag, Notstandsgesetze, Agenda 2010, jetzt die Migrationsfrage. Freilich stets mit dem Preis, dass wir dafür auch bitter bezahlt haben. Aber wir haben immer zu unserer Verantwortung gestanden, auch wenn man es uns nicht dankt. Das ist in der DNA der SPD. Meine Überzeugung ist: Wer die Dinge verbessern will, darf den aktuellen Zustand nicht nur schlecht reden – wie es die CDU gerne tut – sondern muss sie mit der nötigen Führungsstärke zum Wohle aller auch anpacken.

Die SPD als Partei, die Migration regelt? Wir hatten den Eindruck, der Druck kommt woanders her.

Ott: Wer packt es denn gerade an? Die CDU hatte 16 Jahre Zeit, die Gesetze zu ändern. Aber es macht wieder mal die SPD. Auch bei uns sind die Herzen groß und weit, aber es gibt Momente, da ist Verantwortungsethik entscheidender als Gesinnungsethik.

Gibt es im Land zu wenig Plätze für Geflüchtete oder zu viele Geflüchtete?

Ott: Schwarz-Grün verspricht uns seit einem Jahr 3000 zusätzliche Landesplätze. Das haben sie nicht geschafft. Und was versprechen sie uns jetzt? 3000 zusätzliche Plätze. Merken Sie selber, oder? In unserer Regierungszeit haben wir 2015/2016 damals in kürzester Zeit rund 75 000 Plätze geschafft. Ungefähr so viele fordern übrigens die Kommunen. Klar ist aber auch: Es müssen weniger kommen und Asylverfahren schneller durchgeführt werden. Da wird ja jetzt auch die Möglichkeit von Verfahren außerhalb Europas geprüft. Interessant, dass dieses Thema in der schwarz-grünen Landesregierung zwischen Herrn Wüst und Frau Paul direkt für Ärger gesorgt hat. Es brodelt da offenbar.

Das geräuschlose Regieren ist nach Ihrem Befund also bald vorbei?

Ott: Oder es gibt eine Selbstverleugnung auf schwarzer und grüner Seite.

Wann kommt denn die SPD in NRW eigentlich wieder auf die Beine? Momentan liegen sie bei 18 Prozent in den Umfragen.

Ott: Edgar Moron, einer meiner Vorgänger, der leider kürzlich verstorben ist, hat immer gesagt: ,Schaut nicht auf Eure Füße, sondern in das Gesicht der Wählerinnen und Wähler.‘ Was die Menschen viel mehr als Umfragewerte interessiert, ist, wie Politik die Dinge geregelt bekommt. Und da ist die SPD immer noch die Partei, die das am besten kann. Wer mich kennt, weiß, dass ich keine Ruhe gebe, bis eine Sache gelöst ist. Und dazu gehört als Oppositionsführer natürlich auch, der Landesregierung mal einen auf die Nuss zu geben. Entscheidend ist aber, dass wir die besseren Ideen haben als Schwarz-Grün. Davon werden sich die Menschen noch ein Bild machen können. Mit Sarah Philipp, Achim Post und mir gibt es da jedenfalls ein klares Gegenangebot zu dieser Schlafwagenpolitik von CDU und Grünen.

Wo sind die SPD-Wähler hin?

Ott: Zuhause, in ihren Städten und Gemeinden. Und da werden wir wieder häufiger vorbei schauen. Wir sind unter CDU-, Grünen- und FDP-Wählern die zweitbeliebteste Partei. Das reicht aber nicht, um zu gewinnen. Wir können und werden überzeugen, dass wir es sind, die die Dinge geregelt bekommen. Wer will, dass der Staat funktioniert, hat in uns einen Macher und starken Partner.

Und mehr Geld im System hätten sie auch gerne, oder? Ist die Schuldenbremse zu halten?

Ott: Die Schuldenbremse war ein Riesenfehler. Investitionen in die Zukunft von Bildung und Infrastruktur müssen doch im Angesicht aller Krisen, die wir haben, möglich sein. In dieser Situation zu sparen, löst bei mir 1928-Stimmung aus. Und das ist nicht gut, wenn alle anderen in der Welt keynesianische Politik machen.