Turbo-Abitur zwingt junge Leute zu früherer Lebensplanung

Das Turbo-Abitur hat deutschlandweit Einzug gehalten. Der schnellere Weg zur Hochschulreife hat für die Lebensplanung junger Menschen Konsequenzen: Entscheidungen müssen früher getroffen werden.

G8 oder G9, das ist hier die Frage.

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Rheine (dpa). Sie haben jede Menge Unterricht und sind dafür ein Jahr eher fertig: das Turbo-Abitur nach nur zwölf Schuljahren hat den Schüler-Alltag nachhaltig verändert. Vor allem treffen die Jugendlichen ihre Studien- oder Berufswahl inzwischen deutlich früher. Zu diesem Ergebnis kommt eine der dpa vorliegende repräsentative Umfrage des privaten Edu-Instituts für Studienberatung aus dem westfälischen Rheine. Befragt wurden Schüler und Studenten im Alter von 18 bis 25 Jahren.

Im Schnitt treffen heute die meisten Schüler bereits mit 16 Jahren Entscheidungen über ihren künftigen Lebensweg. Im Jahr 2012 lag dieses Alter noch bei 18 Jahren. „Wir haben es mit einer anderen Generation von Jugendlichen zu tun, die früh mit dem Ernst des Lebens konfrontiert wird“, sagt Edu-Geschäftsführer Peter Stegelmann.

Doch je jünger die Jugendlichen sind, wenn sie weitreichende Entscheidungen treffen müssen, desto größer sei dabei der Einfluss der Eltern, merkt Stegelmann an. „Es kommt vor, dass in Berufsberatungsterminen nur Eltern ohne die Kinder erscheinen.“ Schlimmstenfalls hätten es die Abiturienten mit „Helikopter-Eltern“ zu tun, die sich - einem Beobachtungs-Hubschrauber gleich - ständig in der Nähe ihrer heranwachsenden Kinder aufhalten. „Hinzu kommt, dass ein Studienanfänger mit 17 noch minderjährig ist und zu Hause wohnt.“

Doch die Jugendlichen müssen nicht nur früher ihren Lebensweg planen. Wegen des dicht gepackten Lernprogramms, das den Stoff aus zuvor 13 nun auf zwölf Schuljahre zusammenzieht, gibt es auch bei der Freizeitgestaltung Abstriche.

Sportvereine und Musikschulen müssten sich im Gefolge des Turbo-Abiturs auf sinkende Teilnehmerzahlen einstellen, erwartet das Institut. Die ersten Auswirkungen sind dort bereits zu spüren. „Das Zeitfenster wird enger“, bestätigt der Ressortleiter Jugend beim Landessportbund Nordrhein-Westfalen (Duisburg), Matthias Kohl. Vor allem bei Mannschaftssportarten gebe es in den Vereinen Probleme, genug Schüler zu den jeweiligen Trainingszeiten zu bekommen.

Insbesondere jene Schüler, die sich für den zeitaufwändigen Leistungssport interessierten, müssten zunehmend zwischen schulischer Belastung und den terminlichen Anforderungen für das Training abwägen. Auch das junge Ehrenamt im Sport gerate inzwischen unter Druck. „Gefühlt gibt es da schon viele Einschränkungen. Eine klare Datenlage haben wir aber noch nicht“, fasst Kohl zusammen.

Ähnlich ist die Lage an den Musikschulen. Es gebe derzeit zwar noch nicht deutlich weniger Schüler als früher. Doch die Verdichtung der Schulzeit führe dazu, dass die angehenden Abiturienten weniger Wochenstunden für ihren privaten Musikunterricht zur Verfügung hätten, sagt Claudia Wanner, Sprecherin des Verbands deutscher Musikschulen (Bonn). „Die Schüler sind bis zum Nachmittag gebunden und können dann eben nicht zu uns kommen.“

„Man hat kaum noch Zeit, sich zu orientieren“, bemängelt auch die ehemalige Schülerin Helke Ellersiek aus Köln die Hektik unter dem Diktat des Turbo-Abiturs. Die heute 19-Jährige brach die Gymnasialzeit nach der 11. Klasse vorzeitig ab, weil ihr der Druck zu groß geworden war. „Ich hatte das Gefühl, dass man nur noch Erwartungshorizonten gerecht werden muss.“

Als Konsequenz aus der anhaltenden Kritik will NRW nun den verkürzten Weg zum Abitur für die Schüler entspannter gestalten. Ein Runder Tisch mit Vertretern aus Schulen, Politik, Parteien und Kirchen sprach in diesem Monat entsprechende Empfehlungen aus. Dazu zählen Beschränkungen der Hausaufgaben, des Lernstoffs und des Nachmittagsunterrichts.

Noch in diesem Jahr will der Landtag eine Leitentscheidung zur Umsetzung der Empfehlungen treffen. Das Reformkonzept könnte dann zum nächsten Schuljahr greifen. Eine Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren soll es aber nicht geben. Dessen Wiedereinführung wird dagegen von der Landesschülervertretung NRW favorisiert. Nur so könnten die Jugendlichen ihr Abitur „ohne Nachhilfe und Stress“ machen, heißt es in einer Stellungnahme. Dann fänden die Schüler auch wieder genug Zeit, „ihre Persönlichkeit außerhalb der Schule frei zu entfalten“.