Abitur „Wahnsinnig gut aufs Leben vorbereitet fühle ich mich nicht“

WZ-Redakteur Ekkehard Rüger im Gespräch mit seiner Tochter Leonie über das Abitur früher und heute, das Geschenk der Bildung und die vielen Möglichkeiten.

Foto: Annerose Frickenschmidt

Burscheid. Ihr Abitur hat sie gerade bestanden. Jetzt sitzt Leonie (18) ihrem Vater Ekkehard Rüger, Redakteur dieser Zeitung, gegenüber — und das Aufnahmegerät läuft. Ein Gespräch zwischen den Generationen und damit auch über unterschiedliche Erwartungen an Schule und Bildung.

Du hast immer erzählt, wie froh du bist, dass die Schulzeit vorbei ist. Hast du überhaupt das Gefühl, etwas mitgenommen zu haben?

Leonie Rüger: Ich bin vor allem froh, aus der Schule raus zu sein, weil so wenig Freizeit blieb. Ich war manchmal erst um 16 oder 17 Uhr zu Hause und musste dann noch Hausaufgaben machen oder lernen. Und ich habe mich in der Schule nicht immer wohlgefühlt, teils wegen meiner Mitschüler.

Auch wegen der Lehrer?

Leonie: Nein, das überhaupt nicht. Die Lehrer an unserer Schule fand ich immer sehr sympathisch und unterstützend. Sie haben mich zum Großteil überhaupt erst durch die Schule gebracht. Ich habe Schule nie so verstanden, dass sie mich nicht weiterbringt, auch wenn es natürlich Inhalte gibt, von denen ich denke, dass ich sie nicht brauche. Ich weiß zum Beispiel nicht, was ich damit anfangen soll, die Länge eines Vektors berechnen zu können. Aber im Großen und Ganzen habe ich inhaltlich viel mitgenommen.

Könntest du sagen, was dir das Wichtigste an der Schulzeit war?

Leonie: Mir eine eigene Meinung zu bilden und sie auch zu vertreten. Das wurde von den Lehrern oft gefordert, vor allem in Sozialwissenschaften.

Glaubst du, dass du durch die Schule auf das Leben vorbereitet bist?

Leonie: Nicht wirklich. Man hat sich viel mit der Schule beschäftigt, aber hatte gar nicht so viel Zeit, darüber nachzudenken, was man nach der Schule machen will. Ich war da schon eine von wenigen, weil ich unbedingt aus der Schule raus wollte und mich darum nicht so sehr reingekniet habe, sondern vielleicht stärker auf die Zeit danach fokussiert war. Aber viele meiner Mitschüler waren so im Abistress, dass sie sich noch gar nichts überlegt haben. Viele schreiben sich jetzt erst mal für irgendetwas ein. Wir haben zwar eigenständiges Arbeiten gelernt, aber wahnsinnig gut aufs Leben vorbereitet fühle ich mich nicht.

Mein Eindruck war immer, dass ihr zu wenig Freiräume hattet, um euch auszuprobieren.

Leonie: In der Oberstufe durch die Wahlmöglichkeiten zum Teil schon. Da kann man überlegen, was einem liegt und was nicht. Aber viel Freiraum zur Entfaltung gibt es nach meinem Empfinden nicht, zum einen durch den Zeitmangel, zum anderen auch durch den Gruppenzwang innerhalb der Schüler. War das bei euch anders?

In meiner Erinnerung habe ich wahnsinnig viel Zeit für andere Dinge als Schule aufgewendet und Schule ist immer so nebenher gelaufen. Man war halt vormittags im Unterricht. Und ansonsten habe ich sehr intensiv Sport gemacht, bei der Schülerzeitung und in der Schülervertretung mitgearbeitet, auch in der Friedensbewegung. Ich habe Theater und in einer Band gespielt. Für mich war die Zeit in und nach der Schule wie ein großes Spielfeld. Man kann das ja abtun und sagen: „Dabei lernst du doch nichts.“ Aber ich würde sagen, vieles von dem, was ich an Haltung und Überzeugung mitbringe, habe ich in meiner Schulzeit entwickelt.

Leonie: Wie meinst du das?

Nach meinem Gefühl haben Eltern heute viel mehr Angst, dass ihre Kinder in dem globalen Konkurrenzkampf nicht bestehen könnten. Und deswegen erwarten sie von der Schule, dass sie kleine Leistungsmonster hervorbringt. Ich glaube, dass ich früher mehr Freiraum hatte, in der Schule meine Persönlichkeit zu entwickeln. Du und deine älteren Geschwister, ihr seid ja alle G8-Jahrgänge . . .

Leonie: Ich bin auf jeden Fall für G9!

Weil . . .?

Leonie: . . . man viel mehr Zeit hat. Natürlich bin ich jetzt super froh, raus zu sein. Und noch ein Jahr hätte mich sehr viel Qual gekostet. Aber ich glaube, wenn es nicht so viel Stress in der Schule gibt und man zusätzlich noch ein weiteres Jahr hat, ist das einfach besser, weil man dann auch älter ist und mehr Zeit hat zu überlegen, worauf man Lust hat. Mein bester Schulfreund hat sein Abitur jetzt mit 16. Er kann zwar studieren, aber für Jobs oder Freiwilligendienste ist es unpraktisch, so jung zu sein.

Ist die G8/G9-Frage unter euch überhaupt oft diskutiert worden?

Leonie: Viele haben gesagt, dass sie G9 besser finden. Auch in der Abizeitung steht unter „Letzte Worte zur Schule“ oft: „Führt G9 wieder ein.“

Hast du einen größeren Konkurrenzdruck empfunden?

Leonie: Jedenfalls habe ich oft wahrgenommen, dass Noten bei uns eine enorme Rolle gespielt haben. Wenn wir Klausuren zurückbekamen, wurde sofort in der Nachbarschaft gefragt: „Welche Note hast du denn?“ Oft sind Tränen verdrückt worden, wenn es schlechtere Noten gab im Vergleich zu anderen. Und dieser Vergleich hat auch bei den Notenvergaben am Ende des Halbjahres immer eine große Rolle gespielt. Ich finde auch schade, dass bei der Abizeugnisvergabe die vorgelesen wurden, die einen 1,0-, 1,1- oder 1,2-Schnitt hatten. Klar, das ist eine super Leistung. Aber letztendlich können wir alle stolz sein, unser Abitur bestanden zu haben.

Was ist für dich entscheidend dafür, dass man gerne zur Schule geht: die Fächer oder die Lehrertypen?

Leonie: Mir war immer die Persönlichkeit des Lehrers sehr wichtig. Da können das Unterrichtsfach oder der Lehrplan noch so langweilig sein, wenn der Lehrer selbst davon begeistert ist und das auch rüberbringen kann. Von der Frage, ob der Lehrer nett ist oder nicht, hängt ganz stark ab, ob man gerne in den Unterricht geht. Aber grundsätzlich finde ich Fächer wie Erdkunde oder Sozialwissenschaften, in denen es auch aktuelle Themen gibt, die einen selber betreffen und besser mit dem Alltag in Verbindung gebracht werden können, viel interessanter. Das wäre auch ein Wunsch an die Schule: viel häufiger aktuellere Themen zu behandeln. Das hängt zu sehr von den Lehrern ab: Der eine bezieht sich auf die aktuellen Nachrichten, der andere behandelt einfach nur den generellen Aufbau der EU-Organe.

Wenn ich zu euch in die Schule gekommen bin, haben mich diese ganzen Vorträge über Profile in der Regel eher gelangweilt. Ich habe mir eigentlich nur die Lehrer angeguckt. Wenn ich dachte, dass sie einen engagierten Eindruck machen, habe ich meine Kinder dort immer gut aufgehoben gefühlt. Vielleicht liegt es daran, dass ich aus einer Lehrerfamilie stamme, aber ich habe grundsätzlich ein großes Vertrauen zu Lehrern.

Leonie: Man muss als Schüler die Entscheidung treffen: „Wie wichtig ist mir Schule?“ Wenn man die Wichtigkeit nicht so hoch ansiedelt, hat man auch in G8 genug Freiraum, seine Persönlichkeit zu entfalten. Aber wenn man diesen Leistungsdruck mitmacht, ist G8 sehr vereinnahmend.

Ich verkläre jetzt vielleicht auch einiges in meiner Erinnerung. Natürlich haben auch wir auf Noten geguckt und wenn ich mal in Sport keine Eins hatte, war der Tag gelaufen. Aber in dem alten Streit, ob Kindergarten und Schule eher Schutzräume oder schon eine Vorbereitung auf die Härten des Lebens sein sollen, bin ich noch immer eher für den Schutzraum. Ich glaube, auch eine dort entwickelte Persönlichkeit ist für die gesellschaftlichen Härten gewappnet, behält aber auch im Blick, was es jenseits von Ehrgeiz und Konkurrenz noch an wichtigen Dingen im Leben gibt.

Leonie: Ich finde gut, wenn man von der Klasse fünf bis zur Klasse neun noch in diesem Schutzraum ist. Aber in der Oberstufe sollte schon versucht werden, uns auch darauf vorzubereiten, im Leben klarzukommen und selbstständig zu sein. Darauf haben auch unsere Stufenlehrer viel Wert gelegt. Sonst wären viele später im Studium überfordert.

Mein Vater war ja als Lehrer noch einem preußischen Disziplinverständnis verpflichtet. Als schlesischer Bauernsohn war für ihn Bildung nichts Selbstverständliches. Und ihn hat immer aufgeregt, wenn wir unsere Bildungschancen nicht genutzt haben. Unser Schulsystem ist ja auch ein Geschenk.

Leonie: Das ist mir auch immer mal wieder durch den Kopf geschossen. Einerseits quält man sich in der Schule, andererseits ist das Klagen auf hohem Niveau. Wir bekommen kostenlos Bildung mit auf den Weg, während in anderen Ländern darum gekämpft wird. Das ist sicher auch für Lehrer manchmal schwer mit anzusehen, welches große Desinteresse Schüler an den Tag legen können.

Ist diese Situation in anderen Ländern vielleicht ein bisschen durch die Flüchtlingsklassen in euren Schulalltag getragen worden?

Leonie: Das war sehr unterschiedlich. Es gab Kinder, die seit Jahren nicht mehr zur Schule gegangen waren und sich erst wieder daran gewöhnen mussten, eine Autoritätsperson vor sich stehen zu haben und lernen zu müssen. Es gab aber auch Kinder, die unglaublich wissbegierig waren und alles in sich aufgesogen haben. Gerade auch die älteren Mädchen haben es teilweise superschnell geschafft, sich in die Regelklassen einzugliedern und mitzuhalten. Das war schön zu sehen, wie sie lernen wollten und das auch genossen haben. War das eigentlich bei euch auch schon so, dass alle Abitur machen und studieren wollten?

Nein, die Anerkennung für einen Ausbildungsberuf war noch verbreiteter. Wenn wir Handwerker ins Haus bestellt haben, waren das alles ehemalige Schüler meines Vaters. Ich würde sagen, das war viel akzeptierter, und ich finde schade, dass das nicht mehr so ist. Ich hätte überhaupt kein Problem damit, wenn ihr eine Ausbildung machen würdet.

Leonie: Ich glaube, dass wir nicht nur wegen G8 überfordert sind, sondern auch, weil es so viele Möglichkeiten für uns gibt. Und sich da zu entscheiden: Mache ich ein Freiwilliges Soziales Jahr, gehe ich erst mal arbeiten, studiere ich, mache ich eine Ausbildung, das ist eine so große Frage, die schwierig zu beantworten ist.