Jahresempfang der SPD Wuppertal Der Wertekompass der SPD
Wuppertal · Lange will Malu Dreyer nicht Vorsitzende der SPD bleiben. Aber die Zeit könnte reichen, damit sich die Partei an ihr wieder ein bisschen aus- und aufrichtet.
„Jede Minute mit Malu Dreyer ist eine gute Minute.“ Wenn es stimmt, was Martin Schulz im November 2017 gesagt hat, als der damalige SPD-Vorsitzende die Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz besuchte, dann stehen der Bundespartei gerade mal ziemlich viele gute Minuten bevor. Seit einem Monat führt Dreyer die Partei zusammen mit Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel kommissarisch. Drei statt einer. Ab dem Parteitag im Dezember könnten es dann zwei sein. Aber keiner von den dreien.
Als Schulz die gemeinsame Zeit mit der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin adelte, hatte er noch das legendäre 100-Prozent-Wahlergebnis vom März 2017 im Rücken. Einen Monat später folgten bei seiner Wiederwahl deutlich nüchternere 81,9 Prozent. Es war derselbe Parteitag, der Malu Dreyer mit 97,5 Prozent erstmals auf einen der Stellvertreterposten hievte. Doch anders als Schulz, dessen Absturz in der Gunst der Genossen inzwischen mindestens ebenso legendär ist wie sein Aufstieg, scheint Dreyers Popularität in der Partei nach wie vor ungebrochen. Und die 58-Jährige will das nutzen, um ihre geschundene Partei wieder aufzurichten. Zumindest ein bisschen.
Vielleicht ist das Ende ihres Auftritts in Wuppertal bezeichnend. Am Mittwochabend hatte sie beim Jahresempfang von Partei und Ratsfraktion erst eine Rede gehalten und sich dann zusammen mit dem Fraktionschef im Landtag, Thomas Kutschaty, und Wuppertals Oberbürgermeister Andreas Mucke den Fragen von Lothar Leuschen (WZ-Chefredaktion) gestellt. Jetzt ist ihr Auftritt beendet und sie könnte gehen. Tut sie aber nicht.
Ihre souverän-selbstbewusste Offenheit kaschiert nichts
Stattdessen löst Dreyer sich von ihrer Begleitgruppe, geht auf die erste Sitzreihe zu und sucht das Gespräch. Und bei dieser Geste des guten Willens bleibt es nicht. Schließlich zieht die Ministerpräsidentin quer durch den gesamten Saal des Barmer Bahnhofs. Ihr Gang, deutlich von einer vor 24 Jahren diagnostizierten Multiplen Sklerose geprägt, wird zur völligen Nebensächlichkeit, gerade weil ihre souverän-selbstbewusste Offenheit nichts kaschiert. Wer ihr begegnet, zu dem nimmt sie Kontakt auf. Malu Dreyer, die Integrationsfigur.
„Ich mag Menschen“, sagt sie dazu. „Fahren Sie mal nach Wuppertal und nach Erfurt, dann spüren Sie, Menschen sind ganz unterschiedlich. Das klingt nach einer Plattitüde, ist es aber nicht. Jeder hat es verdient, dass man Interesse an ihm und seinen Wünschen hat und man es in der Politik auch versteht, warum ein Menschenschlag so oder so ist.“
Integrationsfigur, das Wort nimmt auch Josef Neumann in den Mund. Der Sozialpolitiker der Landtagsfraktion bezeichnet Malu Dreyer so. Weil sie soziale Akzente setzt. Und weil sie die Partei in einer schwierigen Situation zusammenhält. „Die Menschen merken, ob du schwätzt oder ob du für ihre Lebensverhältnisse etwas tust.“ Die kommissarische Vorsitzende habe etwas, „das für diese Partei gerade sehr wichtig ist: Glaubwürdigkeit“.
Man kann diesen Lobesreigen beliebig fortsetzen. „Sie hat das Herz am rechten Fleck und schafft es, Leute zusammenzubringen“, sagt Thomas Kutschaty. „Sie verkörpert sehr authentisch Versöhnung“, sagt der Wuppertaler Bundestagsabgeordnete Helge Lindh. Für ihn ist nämlich das Dilemma der SPD, dass sie die Brückenpartei zwischen den progressiven, weltoffenen Menschen und den eher von Absturzängsten geplagten Bürgern sei. Malu Dreyer, die Unaufgeregte, die verbinden kann. „Sie ist kein Apparatschik aus der Berliner Blase.“
Oben auf der Wuppertaler Bühne bricht die so Gelobte erst mal eine Lanze für die Kommunalpolitik. Und die 40 000 Sozialdemokraten in Deutschland, die sich kommunalpolitisch engagieren. Also sei der generelle Vorwurf, die SPD sei nicht mehr bei den Leuten, „Quatsch“: „Kommunalpolitiker sind immer bei den Leuten.“
Und dann redet sie über die Werte, die sie einst zur SPD gebracht haben: „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit.“ Malu Dreyer, der Wertekompass der roten Rasselbande. Sie sieht sich in einem Jahrhundert, „in dem wir wieder die Solidarität neu entdecken können“. Dass die SPD bei ihrem Führungspersonal gerade mal ein Problem mit der Solidarität hat, das tut sie nicht als Quatsch ab. Wie demütigend sich manche Genossen zu Andrea Nahles geäußert haben, hat sie nicht vergessen. „So lange wir so unsolidarisch mit unseren eigenen Leuten umgehen, so lange haben wir ein Glaubwürdigkeitsproblem.“ Sie glaubt, dass es Jahre dauert, das zu korrigieren.
Das kommissarische Führungstrio soll seine wenige Zeit nutzen, um Korrektiv zu sein – und Vorbild. „Wir trauen uns und vertrauen uns. Wir reden nicht schlecht übereinander und sprechen uns ab.“ Handlungsanweisung für Thomas Kutschaty, der neben ihr sitzt? Der Landespolitiker lässt in Wuppertal noch offen, ob er sich nach dem Duo Christina Kampmann und Michael Roth auch um den Parteivorsitz bewirbt. Noch ist er in der Phase, seinen Rückhalt in der Partei zu erkunden – und wer an seiner Seite stehen könnte. Denn wenn, dann will auch Kutschaty im Team antreten.
Malu Dreyer dagegen winkt weiter ab. Beim Nein soll es bleiben, auch wenn sie für viele Parteimitglieder die Vorsitzende der Herzen ist. Schon früher war ihr Name immer mal wieder gehandelt worden. Aber Dreyer hat entschieden, 2021 erneut in Rheinland-Pfalz zu kandidieren. Sie will in ihrer Heimat bleiben. Und stößt dabei wieder auf die Folgen der Offenheit, mit der sie ihre Krankheit thematisiert hat. Denn niemand aus dem kommissarischen Führungstrio tritt an, aber nur bei ihr meinen alle zu wissen, woran es liege. „Aber die Erkrankung ist nicht der Grund.“
Die innere Freiheit
der einstigen Quereinsteigerin
Und was ist der Grund für ihre ungebrochene Popularität innerhalb der Partei und den Nimbus der Glaubwürdigkeit? Wenn man sie selbst danach fragt, zögert sie erst und spricht dann von der inneren Freiheit, die daher rührt, dass die Juristin und Staatsanwältin mal als Quereinsteigerin zur Sozialdemokratie gekommen ist und sich die Gewissheit bewahrt hat: „Ich habe auch einen anderen Platz in der Gesellschaft, falls es mit der Politik mal anders laufen sollte.“
Und dann ist da noch das, was sie ihre „innere Haltung zur Macht und meinen Ämtern wie auch zu meiner Erkrankung“ nennt: „Dass es ein Geschenk ist, dass ich das alles machen kann. Aber ich weiß auch: Das ist nichts, was ewig gegeben ist, sondern sich immer wieder bewähren muss.“
Ihren Frohsinn will sie sich jedenfalls auch durch die massive Krise ihrer Partei auch in Zukunft nicht nehmen lassen. „Ich finde es wichtig, dass man über sich und mit anderen lachen kann. Humorlose Menschen sind, finde ich, schwierig.“