Menschenrechte in China: „Die Fortschritte sind ausgeblieben“

Dirk Pleiter, deutscher China-Experte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, über die Olympischen Spiele und die Situation der politisch Verfolgten.

Düsseldorf. Einen Monat vor Beginn der Olympischen Sommerspiele in Peking hält die Kritik an Menschenrechtsverletzungen in China unvermindert an. "Die Hoffnung des IOC, dass sich die Lage der Menschenrechte durch die Spiele verbessert, war ein reines Lippenbekenntnis", kritisierte Boris Eichler, Sprecher der Tibet Initiative Deutschland. In Tibet herrsche nach den Unruhen vom Frühjahr eine "Atmosphäre der Angst".

Die chinesischen Sicherheitskräfte in der Region seien massiv verstärkt worden. Es gebe weiter nächtliche Hausdurchsuchungen und willkürliche Verhaftungen. Nach außen wirke die Lage ruhig, weil der Druck auf die Tibeter enorm erhöht worden sei.

Dieser Einschätzung schließt sich auch der China-Experte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, Dirk Pleiter, im Interview mit unserer Zeitung an. Das ausführliche Gespräch ist der Auftakt zu unserer Serie "Unbekannter Riese China".

Herr Pleiter, wie bewerten Sie die Lage der Menschenrechte in China?

Pleiter: An vielem, das wir seit Jahren beklagen, hat sich nichts verändert. Menschen werden aus politischen Gründen weiter willkürlich inhaftiert, sie haben keine Chance auf ein faires Gerichtsverfahren oder kommen ganz ohne Verhandlung für lange Jahre hinter Gittern. Zudem gibt es immer noch Folter und Misshandlungen, gerade in den Gebieten, in denen ethnische Minderheiten leben. Auch verzeichnen wir eine extensive Anwendung der Todesstrafe. Allein im vergangenen Jahr waren es nach unseren Zahlen 1860 - und das ist nur die untere Grenze. Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.

Befürworter der Olympischen Spiele in Peking sagen, dass die Veranstaltung auch der Förderung der Menschenrechte diene. Teilen Sie diesen Optimismus?

Pleiter: Es geht ja noch weiter. Die chinesische Delegation hat bei der Bewerbung um die Spiele versprochen, dass sich die Menschenrechtssituation verbessern werde. Aber wir sehen bisher nur kleine Schritte seit der Entscheidung für Peking im Jahr 2001.

Wie sehen diese aus?

Pleiter: Das chinesische Regime hat die Arbeitsbedingungen für ausländische Journalisten verbessert. Allerdings ist nicht klar, ob diese Verbesserung substanziell und nachhaltig ist. So ist die Regelung zunächst nur bis Oktober 2008 in Kraft, und es ist nicht klar, ob sie darüber hinaus verlängert wird. Während des Tibet-Konflikts wurden diese Freiheiten für ausländische Berichterstatter sofort wieder beendet.

Die Lockerung der Zensur also eine reine Beruhigungspille für die westliche Welt?

Pleiter: Die Fortschritte, die viele erhofft hatten, sind jedenfalls ausgeblieben. Und wir beobachten, dass die Risiken, vor denen wir gewarnt hatten, eingetreten sind. So haben sich politische Spannungen im Vorfeld der Spiele verschärft. Das sieht man am Tibet-Konflikt. Zudem geht das chinesische Regime insbesondere in Peking verschärft gegen soziale Randgruppen vor. Es will der Welt das Bild eines modernen und sauberen Chinas vermitteln.

Als im April der Regimekritiker Hu Jia verurteilt wurde, sahen viele Kritiker darin eine Warnung des Regimes an andere Menschenrechtsaktivisten.

Pleiter: Davon kann man ausgehen. Es werden gezielt einzelne Personen verurteilt, um abzuschrecken. Aber es gibt auch positive Signale. So gibt es eine zunehmende Zahl von Aktivisten in China, die sich nicht mundtot machen lassen, die sich trotz Festnahmen weiter engagieren, die sich für Inhaftierte in Tibet einsetzen. Wir sehen, dass sich in China eine Zivilgesellschaft herausbildet, die es dem Regime schwer machen wird, Menschenrechte weiter zu vernachlässigen.

Was erhoffen Sie sich von Politikern und Sportlern, die zu den Spielen reisen?

Pleiter: Da ist vor allem die Politik gefordert. Sie muss die Menschenrechte stärker in den Fokus der Beziehungen zu China stellen. Und sie dürfen China nicht anders behandeln als andere Länder, bloß weil es ein einflussreiches Land und Mitglied im UN-Sicherheitsrat ist. Vielmehr müssen sie einfordern, was China selbst an Forderungen in Menschenrechtsverträgen unterzeichnet hat. Zudem hoffe ich, dass die Sportverbände deutlicher als bisher ihre Stimme erheben. Dies gilt insbesondere für das Internationale Olympische Komitee, das bisher enttäuscht hat. Dessen Glauben, dass sich die Menschenrechtssituation in China automatisch durch die Spiele verbessern werde, trifft nicht zu. Diesen Automatismus gibt es nicht. Die Olympische Bewegung ist ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden.