Interview Michael Groschek: „Ich bin weder Platzhalter noch Platzhirsch“

Der designierte SPD-Landeschef Michael Groschek über einen Neuanfang mit alten Köpfen, die missglückte Wahlkampagne und drei Etappen der politischen Genesung.

Foto: Judith Michaelis

Düsseldorf. Beim Landesparteitag am 10. Juni stellt sich der bisherige Verkehrsminister Michael Groschek (60) in Duisburg der Wahl zum Vorsitzenden der NRW-SPD. Er würde damit Nachfolger von Hannelore Kraft, die ihre Parteiämter nach der Wahlniederlage am 14. Mai niedergelegt hatte.

Herr Groschek, freuen Sie sich auf Ihre Wahl in Duisburg?

Michael Groschek: Inzwischen ja. Ostern habe ich noch nicht daran gedacht, dass ich jetzt Kandidat für den Landesvorsitz der NRW-SPD bin. Und das war auch kein angestrebtes Karriereziel von mir.

Aber als junges Talent . . .

Groschek: Zum Alter kann ich nur sagen: Merkel ist deutlich älter und Laschet unwesentlich jünger als ich.

Ab wann war Ihnen klar, dass es auf Sie zuläuft?

Groschek: Nach ein, zwei Tagen, als Namen gehandelt wurden und wir leider erleben mussten, dass in der SPD zwar viel über Respekt und sozialen Anstand geredet wird, wenn die Gesellschaft gemeint ist, aber wir intern im Umgang miteinander zu oft Respekt und Anstand verlieren.

Wen meinen Sie damit?

Groschek: Viele leben in dem naiven Glauben, die Pointen oder Namen, die an Journalisten durchgestochen werden, seien ein politischer Qualifikationsnachweis. Sie begreifen nicht, dass sie sich politisch verzwergen und zur Lachnummer machen. Dieser Prozess hat leider sofort am Tag nach der Wahl eingesetzt. Es war ein munteres Tontaubenschießen zu befürchten. Das durften wir nicht zulassen, auch wenn ein geordneter Prozess mit mehr Vorlauf sinnvoller gewesen wäre. Mir war wichtig, dass wir unsere Hausaufgaben vor dem Bundesparteitag Ende Juni in Dortmund gemacht haben. Denn der darf nicht zum Ort unseres Wundenleckens werden, sondern muss der Tag des entschlossenen Aufbruchs für die Bundestagswahl sein.

Sie hatten keinen Plan B nach den letzten Umfragen?

Groschek: Dieses Wahlergebnis hat alle überrascht: Herrn Lindner, Herrn Laschet und uns. Viele haben mit einer großen Koalition gerechnet, aber weiter mit Hannelore Kraft an der Spitze.

Enden Ihre politischen Pläne mit der Bundestagswahl im September?

Groschek: Wir sind ja nicht kurzsichtig. Wir haben im Landesvorstand einen klaren Fahrplan mit drei Etappen verabredet, den wir auch auf dem Landesparteitag verabschieden wollen und zuvor auf den vier Regionalforen im Land vorstellen und diskutieren. Die erste Etappe ist die Konzentration auf den Bundestagswahlkampf. Wir sind der größte Landesverband und dürfen jetzt nicht in Selbstmitleid zerfließen, sondern müssen in die Hände spucken und sagen: jetzt erst recht. Es gibt Vorbilder dafür, auch in Europa, dass Stimmungsumschwünge immer kurzfristiger entstehen können, ganz aktuell in Großbritannien. Die Umfragen von heute sind am Wahlabend Schnee von gestern.

Sind Sie denn der Richtige dafür? Sie sitzen nicht im Parlament und gelten auch nicht gerade als der erfolgreichste Minister dieser Landesregierung.

Groschek: Bei der Einschätzung erfolgreicher Regierungsarbeit liegen wir meilenweit auseinander. Schauen Sie, wie sich etwa der soziale Wohnungsbau entwickelt hat. Dort sind wir mit Abstand Deutscher Meister. Ich würde jede Tüv-Überprüfung der Fachwelt begrüßen. Beim Verkehr gilt das Gleiche. Das Stauphänomen ist nicht durch die jetzige Landesregierung verursacht, aber die Gelder zur Problemlösung haben wir nach NRW geholt. Wenn wir aber keine Fehler als Landesregierung gemacht hätten, wäre es nicht zu diesem Ergebnis gekommen.

Empfinden Sie die SPD-Wahlkampagne nachträglich als missglückt?

Groschek: Sie war auf jeden Fall nicht erfolgreich. Wir haben 1998 die Kampa als moderne und schlagkräftige Wahlkampfstruktur erfunden. Die SPD war vor 20 Jahren Maßstab aller Dinge beim Campaigning. Allein die Geschichte über Modernität beim Wahlkampf hat der SPD schon Pluspunkte gebracht. Heute muss man konstatieren: Die drei jüngsten Landtagswahlkämpfe wurden bei der CDU zentral aus Berlin gesteuert. Sie hat dabei populistische Elemente aufgegriffen und Fakten nicht so ernst genommen, sondern eher auf Stimmungen gesetzt. Davon hat sich sogar die Bundeskanzlerin anstecken lassen und Fake-News verbreitet.

Was kann man davon lernen?

Groschek: Dass Wahlkämpfe kontroverser und emotionaler geführt werden müssen und dass ein Amtsbonus allein nicht ausreicht. Wählerinnen und Wähler entscheiden viel episodenhafter. Die alte Formel „Stimmungen sind keine Stimmen“ gilt nicht mehr. Bei der FDP ist mit einer mehrjährigen Marketingkampagne die Wiedergeburt einer Partei inszeniert worden. Ihre Agentur hat in Sachen Ästhetik völlig neue Maßstäbe gesetzt. Für die SPD muss daraus folgen, dass wir uns davon verabschieden, dass Idylle das Ideal eines Wahlkampfes ist.

Die neue Episode der SPD beginnt aber mit alten Köpfen wie Herrn Römer.

Groschek: Norbert Römer und ich haben zwei unterschiedliche Aufgaben zu erledigen, die unterschiedliche Wege erfordern. Er hat gesagt, dass er Übergangskandidat für maximal ein Jahr ist. Die Fraktion war fast einstimmig der Meinung, dass eine verkleinerte und mit vielen neuen Gesichtern bestückte Fraktion das Recht hat, sich zunächst selbst zu finden und dann nach einer Phase des Übergangs die neue Führungsspitze zu wählen.

Dafür sind Marc Herter, Thomas Kutschaty und auch Ralf Jäger im Gespräch. Haben Sie einen Favoriten?

Groschek: Wenn es einen solchen gäbe, würden wir den oder die sicherlich heute noch nicht verkünden. Und im Übrigen: Mehr alte Köpfe als in der voraussichtlich neuen Landesregierung gab es noch nie: Laschet, Laumann, Lienenkämper, Wittke, Pinkwart — alles abgewählte Minister.

Sehen Sie Ihre Rolle ähnlich wie Herr Römer?

Groschek: Ich habe die Freiheit, keine Rücksicht auf eigene Karrierepläne nehmen zu müssen. Darum kann ich geradliniger sagen, was Not tut aus meiner Sicht. Nach dem Bundestagswahlkampf werden wir in eine intensive Phase der politischen Inventur einsteigen. Wir müssen die Dinge beim Namen nennen und nicht nur so beschreiben, wie sie sein sollten. Das soll um die Jahreswende abgeschlossen sein. Dann werden wir als dritte Etappe bis zum Sommer 2018 in einem Bündnis der Bessermacher und nicht der Besserwisser die neue Erzählung der NRW-SPD entwickeln. Da brauchen wir die Betriebsräte und Gewerkschaften, aber auch Kunst und Kultur. Wir haben als Partei vielerorts die Verbindung zu Kunst und Kultur verloren. Künstlerinnen und Künstler dürfen nicht nur zur Wahl des Bundespräsidenten eingeladen werden. Und manchmal werden wir als zu langweilig wahrgenommen.

Was ist mit der sozialen Gerechtigkeit?

Groschek: Die Sonntagsrede darüber nutzt niemandem. Soziale Gerechtigkeit muss am Ende auf dem Kontoauszug ablesbar sein. Die Konkretisierung hierzu werden wir bis zum Bundestagswahlkampf leisten.

Kommt diese Kritik an Martin Schulz nicht zu spät?

Groschek: Ich kritisiere Martin Schulz nicht. Er ist ein Geschenk für unsere Partei. Seit Willy Brandt gab es keinen Parteivorsitzenden, der ähnlich viele Neumitglieder mobilisiert hat. Mehr als 4500 allein bei uns in NRW.

Die Bundes-SPD steht nicht gerade für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Der designierte Vorsitzende der NRW-SPD war früher Mitglied der deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik, die sich die Förderung der Verteidigungswirtschaft auf die Fahnen geschrieben hat. Wie kommen Sie aus dieser Nummer raus?

Groschek: Ich bin als junger Mann bewusst zur Bundeswehr gegangen und habe großen Respekt vor denjenigen, die in der Bundeswehr dienen. In Afghanistan sind Menschen gestorben, um Demokratie und Freiheitsrechte von Frauen zu verteidigen. Das darf nicht banalisiert oder dämonisiert werden. Ich war auf einer Trauerfeier eines jungen Gefreiten in Ostwestfalen-Lippe und das hinterlässt bei mir Spuren der Verpflichtung. Die SPD darf nie Partei der Aufrüstung werden, aber sie muss die Partei der Sicherheit bleiben. Menschen müssen sich dazu bekennen, Uniform zu tragen. Das ist nichts anderes als der Sonntagsanzug aller Bürgerinnen und Bürger.

Müssten Sie dann nicht für die sofortige Wiedereinführung der Wehrpflicht plädieren?

Groschek: Ich persönlich glaube, dass die schnelle Abschaffung der Wehrpflicht in dieser Form ein Fehler war. Aber das ist meine persönliche Meinung.

Sie haben für NRW von einem Bündnis der Bessermacher und nicht der Besserwisser gesprochen. Das klingt wie die Grünen, die auch lockerer werden wollen.

Groschek: In der Opposition gibt es keine Koalition. In der Opposition gibt es SPD pur, und ich verantworte auch nichts anderes. Es gibt keine rot-grüne, keine rot-gelbe und keine rot-schwarze SPD, sondern nur eine rote. Wir werden uns an keiner Koalitions- oder Projektfähigkeit ausrichten, sondern dafür sorgen, dass die SPD wieder Erfolgspartei wird und nicht nur Volkspartei bleibt. Dabei spielen die Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte der SPD eine wichtige Rolle. Die wieder auf den Platz zu holen, wird entscheidend sein. Denn unsere herausragende Aufgabe ist es, die Kommunalwahl 2020 erfolgreich zu gestalten. Sie wird darüber entscheiden, ob wir noch eine beachtliche politische Verankerung in der Bevölkerung haben oder so etwas wie eine politische Dame ohne Unterleib werden. Die SPD ist stärker als andere Parteien immer Kommunalpartei gewesen.

Und Sie planen auch bis 2020, oder gibt es Überlegungen, in einem Jahr den kompletten Neuanfang zu machen?

Groschek: Die SPD ist täglich für Neuanfang gut. Ich werde jetzt keinen Abreißkalender an die Wand hängen, damit dann die Maßbänder in allen Parteibüros angebracht werden nach dem Motto „219 Tage und der Rest von heute“. Ich bin weder Platzhalter noch Platzhirsch.

Wenn bisher von Digitalisierung die Rede war, hat Ihre bisherige Parteivorsitzende immer nur gesagt, wie viel Kilometer Breitbandkabel im Boden verlegt werden. Müssten nicht die Folgen der Digitalisierung im Bundestagswahlkampf stärker thematisiert werden als der 50-Jährige, der nachts schlecht schläft?

Groschek: Ich habe aktiv gegen den Fahrdienst Uber in Nordrhein-Westfalen gekämpft, weil ich das Geschäftsmodell für Zynismus halte. Es ist kein Modell der Freiheit und Modernität, sondern ein Rückfall in Ausbeutung und ein Geschäftsmodell der automatischen Bereicherung qua Provision. Der Löwenanteil des Gewinns wäre leistungslos in Kalifornien gelandet und nicht in den Taschen der Uber-Fahrer. Man darf diese soziale Entsicherung auf keinen Fall zulassen. Digitalisierung birgt enorme Chancen. Autonomes Fahren beispielsweise wird uns von vielen schrecklichen Unfällen befreien. Aber Digitalisierung heißt auch: Der Roboter nimmt Platz am Fließband und am Bankschalter. Da kommt es jetzt darauf an, intelligente Formen der Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine zu organisieren und den Menschen nicht zum Anhängsel zu machen.

Das heißt?

Groschek: Die Gesellschaft muss Maß und Mitte diskutieren. Und da komme ich wieder auf Kunst und Kultur. Wer den Roman „The Circle“ von Dave Eggers liest, begreift mehr über diese Herausforderungen als durch viele Papiere, die auf Parteitagen oder in Fachzeitschriften kursieren. Da wird plastisch beschrieben, dass der Kickertisch im Pausenraum die größte faule Ausrede sein kann, um Lohndrückerei zu betreiben und Ausbeutung zu idealisieren. Wenn Lebensumstände durch das Schmücken der Arbeitsumgebung fast sektenhaft idealisiert werden, wie das in Kalifornien offenbar die Regel ist, muss diese Kosmetik abgewischt werden, um in das nackte Gesicht zu blicken und zu begreifen, welche Auseinandersetzungen uns da ins Haus stehen. Auch hier braucht es mehr Internationalismus und weniger Nationalismus.

Mit welchem Ergebnis rechnen Sie bei der Wahl auf dem Landesparteitag?

Groschek: Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass die Landespartei sich ihrer Verantwortung für die Bundespartei und auch für das Land bewusst ist. Denn es geht ja darum, als eine starke Opposition im Landtag und soziale Kraft im Land präsent zu sein. Wenn wir uns aufgeben würden, hätten wir mehr verloren als nur eine Landtagswahl.

Aber ein paar Redner, die sagen werden, dass Sie für die Vergangenheit verantwortlich sind, werden Sie nicht verhindern können.

Groschek: Das will ich auch gar nicht. Wir brauchen wieder mehr Orte kontroverser Diskussionen. Eine Partei wie die SPD muss lebendig bleiben. Natürlich ist Geschlossenheit ein wichtiges Argument. Aber vor der Geschlossenheit muss eine kontroverse Diskussion möglich sein und gefördert werden. Deshalb wird es mit mir als Vorsitzendem viele Orte solcher Diskussionen geben.

Und wie bekommen Sie jetzt schnell die parteiinternen Machtkämpfe in den Griff?

Groschek: Ich glaube, dass denen, die Sie als Journalisten gefüttert haben, bewusst geworden ist, dass sie erkannt sind und dass sie der Partei schaden.