Gastbeitrag Militärische Vorbilder? - Die Bundeswehr prüft ihre Tradition

Militärische Vorbilder finden sich auch in finsteren Zeiten. Eine Analyse anlässlich der Unterzeichnung des neuen Traditionserlasses durch Verteidigungsministerin von der Leyen.

Foto: HIS/Dretzke

Viele Berufe pflegen ihre Traditionen, man braucht nur an die Ärzte oder die Rechtsanwälte zu denken. Auffällig aber ist, dass das Militär einen besonderen Wert auf die Aneignung, Bewahrung und Pflege seines geschichtlichen Erbes legt. Warum ist das so? Die neuen Richtlinien zum Traditionsverständnis, die seit November 2017 als Entwurf vorlagen und Ende März von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) unterzeichnet wurden, rücken die „Selbstvergewisserung“ des Soldaten in den Mittelpunkt der militärischen Traditionspflege.

Damit verweisen die Richtlinien auf die herausgehobene Aufgabe des Militärs als Gewaltinstrument im Dienst des demokratischen Staates, auf die existenziellen Herausforderungen des Handelns in Grenzsituationen und auf die hohen Anforderungen an die Selbstkontrolle in brisanten Entscheidungssituationen — nicht nur im heißen Gefecht. Um dabei zu bestehen, ist ein gefestigtes Dienst- und Berufsethos unverzichtbar.

Sein Kern besteht nicht in erster Linie aus abprüfbaren Kompetenzen oder zertifiziertem Fachwissen (so notwendig beides ist!), sondern aus dem sicheren Gespür dafür, was für einen Soldaten geht und was nicht geht. Gesicherte ethische Intuitionen aber müssen erworben und erprobt werden; sie brauchen Wissen, Erfahrung und Anschauung. Dabei hilft die Geschichte, das historische Erbe und dessen Zuspitzung auf das Bewahrenswerte der militärischen Traditionsbildung.

Der Rückgriff auf Situationen oder Persönlichkeiten der Militärgeschichte erfolgt oftmals spontan — weil sie uns imponieren oder irritieren, weil wir uns mit ihnen identifizieren und weil sie uns zeigen, dass wir nicht die Ersten sind, die vor den Zwickmühlen komplizierter Entscheidungen stehen. Wie haben andere diese Situationen gemeistert? Was kann man von ihnen lernen, was übernehmen? Was waren ihre Richtwerte und Handlungskriterien? Wo bieten sie Ansporn und Ermutigung und wo setzen sie Warnschilder? Tradition hat also viel mit der Suche nach und dem Umgang mit Vorbildern zu tun.

Aber was sind Vorbilder? Geht es dabei um Helden, Übermenschen, moralische Perfektionsansprüche und ethische Reinheitsgebote? Wäre das so, die Orientierung an solchen Vorbildern würde uns kleiner machen, als wir sind. Aus diesem Grund waren die Gründungsväter der Inneren Führung skeptisch, wenn von Vorbildern die Rede war. Sie erinnerten sich an die NS-Inszenierungen von Hitler- und Heldenkult und sie fürchteten die Hohlheit einer kritiklosen Verehrung von „Idolen“, die zwar zu faszinieren vermochten, denen man jedoch nicht gerecht werden konnte, weil sie jedes menschliche Maß überstiegen.

Deshalb sprach Graf Baudissin lieber davon, ein „Beispiel zu geben“, in der Geschichte nicht weniger als im Dienstalltag (etwa im Vorgesetztenverhältnis). Darin kam die Einsicht zu Ausdruck, dass auch die herausragenden Persönlichkeiten nicht vollkommen waren, sie konnten sich im Laufe ihres Lebens verändern (und waren nicht immer „vorbildlich“).

Beispielgebend wurden sie, indem sie zeigten, was menschenmöglich war, wie man sich selbst überwinden konnte oder wie man die eigene Person dem gemeinsamen Ziel unterordnete, hinter andere zurücktrat oder sich über starre Konventionen hinwegsetzte. Immer ging es dabei um Konflikthandeln, niemals um Routinen, letztlich also um Führung. Anlässe konnte es viele geben — von den großen Aufgaben bis zu den kleinen ungeschriebenen (Selbst-)Verpflichtungen.

Eines war Graf Baudissin klar: Um ein Beispiel zu geben, reichen professionelle Exzellenz, virtuose Leistungen oder geniale Konzepte allein nicht aus — so imponierend sie auch sein mögen. Das alles ist zweifellos für die Ausbildung, die Lehre oder das militärgeschichtliche Studium interessant. Um aber beispielgebend und in diesem Sinne vorbildlich zu sein, müssen sich fachgerechte Aufgabenerfüllung und kontextbezogene Werthaltungen ergänzen. Diesen Gedankengang nehmen die neuen Richtlinien auf, wenn es heißt, „handwerkliches Können“ reiche nicht aus, sinn- und traditionsstiftend zu sein. Denn Soldat zu sein, ist ein dienender Beruf im Doppelsinn dieser Worte — es braucht professionelle Fähigkeiten, deren letztgültiger Maßstab der Dienst am Gemeinwohl ist.

Vorbilder fordern zur Identifikation wie zur Reflexion heraus. Sie schlagen uns in ihren Bann, weil sie uns zu denken geben. Beides macht sich an Persönlichkeiten der Militärgeschichte fest. Oft genug sind sie schillernd und widersprüchlich, aber in einem überzeugend und ermutigend. In ihrem exemplarischen Handeln bezeugen sie die Möglichkeit einer Haltung, in der wir heute noch die Grundzüge eines gültigen Selbstverständnisses erkennen können.

Was ist hier mit „Haltung“ gemeint? Mit der sprichwörtlichen strammen Haltung ist nicht gedient. Die Haltung, auf die es ankommt, zeigt sich darin, dass personale, situative und ethische Aspekte zusammentreffen — Integrität, Handlungssouveränität und Verantwortungsbereitschaft. Die ganze Person kommt dabei ins Spiel, die Selbstbestimmung der individuellen Letztentscheidung und die Bereitschaft, die Umstände und Folgen des Handelns in einen größeren Rahmen zu stellen.

In der deutschen Militärgeschichte (wie in der anderer Nationen) hat es diese Haltung immer gegeben, auch wenn sie oftmals einen schweren Stand hatte. Gewiss ist die deutsche Geschichte, wie es in den Richtlinien heißt, von „tiefen Zäsuren“ geprägt, sodass von einer „ungebrochenen deutschen Militärtradition“ nicht die Rede sein kann. Die Kapitulation der deutschen Reichswehr bzw. der Wehrmacht vor dem nationalsozialistischen Regime, die Selbstgleichschaltung, die willige Beteiligung an Angriffs- und Vernichtungskriegen und das Mitwirken an Regimeverbrechen bezeichnen einen Tief- und Bruchpunkt der deutschen Militärtradition.

„Die Wehrmacht als Institution kann nicht sinnstiftend“ sein, stellen die Richtlinien fest. Aber es wäre völlig falsch, daraus den Schluss zu ziehen, um die Wehrmacht und ihre Angehörigen einen großen Bogen zu machen oder sie mit einem Tabu zu belegen, um nur ja nichts falsch zu machen. Die Richtlinien legen das nicht nahe; sie verweisen auf das beispielgebende Verhalten „einzelner Angehöriger“ und fordern eine „sorgfältige Einzelbetrachtung und Abwägung“.

Das sollte nicht als abschreckende Warnung missverstanden werden. Für die Traditionsfrage der Bundeswehr gehören die NS-Zeit und die Wehrmacht vielmehr zu den herausforderndsten Phasen der deutschen Militärgeschichte. Denn gerade in ihrer grundsätzlichen Absage an Leitprinzipien der Wehrmachtszeit ist die Bundeswehr ihrer Vorgängerarmee zutiefst verbunden. In diesem Sinne ist der Bruch in der deutschen Militärtradition immer auch eine große Chance — und von den Gründern der Bundeswehr auch so verstanden worden. Man kann die Radikalität und die Konsequenz der bundesdeutschen Wehrreformen, die Gründung und Aufbau der Bundeswehr begleiteten, nicht verstehen, wenn man sie nicht in den Zusammenhang der Wehrmachtserfahrung stellt.

Wohl niemals zuvor war es schwieriger, an den rechtlichen wie sittlichen Maßstäben des Soldatenberufs festzuhalten, als in den zwölf Jahren der NS-Herrschaft. Damals erfolgte eine Probe auf die militärischen Traditionsbestände, in der die Institution Wehrmacht versagte. Woran konnte sich der Soldat damals noch orientieren? Den vielen Wehrmachtssoldaten, die beanspruchen können, anständig geblieben zu sein, wird man Respekt zollen. Hervorzuheben als traditionswürdige Vorbilder aber sind jene Soldaten, denen Anstand, Ehre und Gewissen ein Antrieb waren, mehr zu tun, als Befehl und Gehorsam ihnen vorschrieben. Sie zeigten, wie der Historiker Fritz Stern schrieb, „aktiven Anstand“.

Ihr Beispiel ist umso überzeugender, als sie sich vom Regimedruck, dem Zwang der Umstände und den Gefahren der Unbotmäßigkeit nicht kleinkriegen ließen. Zum „Widerstand“ gehörten sie nicht, aber es wäre irreführend, den „großen“ Widerstand der Verschwörer und Attentäter des 20. Juli 1944 schematisch von den „kleinen“ Gesten der Resistenz, des Ungehorsams und der Verweigerung aus den Reihen der „Empörten, Helfer und Retter in Uniform“ (Wolfram Wette) zu trennen. Beide Gruppen eint die Haltung, auf die es ankommt: auch in finsteren Zeiten Menschenwürde und Humanität zu bewahren.

Das Beispiel der Selbstüberwindung eines Grafen Stauffenberg, obwohl in seiner historischen Rolle herausgehoben und exzeptionell, steht in seinen inneren Konflikten für viele andere Zeugnisse einer oft stillen und unspektakulären Haltung von Soldaten, die sich den Zumutungen des Regimes entgegenstellten.

In einem Brief an General Paulus vom Juni 1942 klagte Stauffenberg über das Versagen der „Führer und Vorbilder“, die sich „um das Prestige zanken oder den Mut, eine das Leben Tausender betreffende Ansicht, ja Überzeugung zu vertreten, nicht aufzubringen vermögen“. Ähnliches hätten die Helfer und Retter, aber auch viele verantwortungsbewusste Vorgesetzte formulieren können. Die Frage war indessen, welche Konsequenzen daraus gezogen wurden. Das Versagen der „Führer und Vorbilder“ ragt tief in die Traditionsfrage der Bundeswehr hinein. Stauffenberg hatte darauf bestanden: „Wir sind als Generalstäbler alle mitverantwortlich.“

Viele und gerade namhafte Befehlshaber und Heerführer der Wehrmacht sind dieser Verantwortung jedoch nicht gerecht geworden. Imponierend in ihren Leistungen, oft unorthodox in ihren militärfachlichen Auffassungen, originell und mutig in ihrem operativen Geschick der Truppenführung, verschlossen sie sich jedoch jener traditionellen Auffassung soldatischen Dienens, die über den Funktionsgehorsam hinausgeht. Was sie nicht verstanden oder verstehen wollten, war die Einsicht, dass Tapferkeit und Ehre zu ihrer Erfüllung der Bindung an Recht und Freiheit bedürfen. Dafür haben sie ein Beispiel gegeben, zum Vorbild taugt es jedoch nicht.