Interview Politikwissenschaftler: Große Koalition ist nicht mit sich im Reinen

Wie fest im Sattel sitzt Angela Merkel nach dem unerwartet knappen Ergebnis bei ihrer Wiederwahl zur Kanzlerin? Darüber sprach unser Korrespondent Stefan Vetter mit dem Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen Falter.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gratuliert Horst Seehofer (l, CSU), zu seiner Ernennung zum Bundesminister für Inneres, Heimat und Bau im Schloss Bellevue. Rechts Olaf Scholz (SPD), Bundesfinanzminister.

Foto: Wolfgang Kumm

Herr Falter, nur 364 von 399 möglichen Ja-Stimmen der großen Koalition für Angela Merkel. Was sagt das über den politischen Stellenwert der alten und neuen Kanzlerin?

Jürgen Falter:
Man kann schon unterstellen, dass hier die meisten Nein-Stimmen von der SPD kamen, weil mehrere Abgeordnete die große Koalition grundsätzlich nicht wollen. Das zeigt: Dieses Regierungsbündnis ist nicht mit sich im Reinen. Da gibt es durchaus verborgene Sprengsätze. Die unerwartet knappe Mehrheit für Merkel bedeutet, dass sie nicht mehr so unumstritten ist wie in der Vergangenheit und anders als in früheren Regierungen jetzt nur noch auf einem sehr schmalen Grat balanciert.

Also hat die Nach-Merkel-Ära definitiv begonnen?

Jürgen Falter: Nein, das nicht. Merkel ist ja im Amt. Sie entscheidet, wie lange sie dort bleiben wird. Zumindest nach jetzigem Stand. Aber noch eine weitere Wahlperiode mit Merkel als Kanzlerin, also über das Jahr 2021 hinaus, ist doch sehr unwahrscheinlich.

Allgemein gilt Merkel nur noch als politische Verwalterin statt Gestalterin. Sind da auch noch Überraschungen möglich?

Jürgen Falter: Merkel hat immer für Überraschungen bei Dingen gesorgt, die nicht im Koalitionsvertrag festgelegt waren. Man denke an den Atomausstieg, die Abschaffung der Wehrpflicht oder ihre humanitäre Flüchtlingspolitik. Daraus kann man lernen, dass Merkel durchaus in der Lage ist, sehr schnell auch unabgesprochene Entscheidungen zu treffen, ganz gleich, wie populär die sind.

Das heißt, Merkel könnte ihren angekratzten Ruf auch noch einmal aufpolieren?

Jürgen Falter: Auf innenpolitischem Feld wohl nicht. Da wird sie eher eine Sachwalterin der Abwicklung des Koalitionsvertrags sein. Außenpolitisch sehe ich da schon eher Chancen. Gut möglich, dass sie mit Frankreichs Präsident Macron zum Beispiel eine energische Initiative zur Reform der EU startet.

Auch Helmut Kohl hatte sich in seiner politischen Spätphase ganz auf die Außenpolitik verlegt, was ihm aber nichts nützte…

Jürgen Falter: An Kohl hatte man sich so satt gesehen, dass die allermeisten einen Jüngeren im Kanzleramt haben wollten. So weit sind wir bei Merkel aber noch nicht. Es ist ja kein Gegenkandidat in Sicht, den man lieber hätte als sie. Anders als damals bei Gerhard Schröder lechzt die Republik nicht gerade danach, Andrea Nahles oder Olaf Scholz als Merkel-Nachfolger zu sehen. Was Merkels Nachfolger in ihrer eigenen Partei, der Union angeht, da wird sie vermutlich klüger handeln als Kohl, der so gar nicht von der Macht lassen konnte.

Soll heißen?

Jürgen Falter: Ich denke, Merkel wird nicht die ganze Wahlperiode durchmachen. Nach zwei oder drei Jahren könnte sie ihr letztes Machtmittel einsetzen, um eine Kandidatin oder einen Kandidaten nach ihren Präferenzen in der Union durchsetzen.

Wird die neue GroKo eine volle Wahlperiode halten?

Jürgen Falter: Wahrscheinlich ist, dass sie hält. Sollte die SPD aber innerhalb der Wahlperiode aus welchen Gründen auch immer stabil aus ihrem Umfragekeller herauskommen, ist auch ein Platzen der Koalition möglich. Zumal dann, wenn Merkel tatsächlich eine vorzeitige Amtsübergabe an einen Nachfolger ihrer Wahl ins Auge fasst. Denn dafür müsste auch die SPD mitspielen.