Angela Merkel - CDU-Chefin von Gnaden der Genossen
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) „begrüßt“, dass die SPD über eine Koalition verhandeln will. Wann ihre eigene Partei einmal zu Wort kommt, ist ungewiss.
Berlin/Düsseldorf. Irgendwann muss die Christlich Demokratische Union Deutschlands einen Bundesparteitag abhalten, und entsprechend ihrer Satzung und Gepflogenheiten sollte es noch im Jahr 2018 passieren. Wann das sein könnte, steht in den Sternen. Über was dort abgestimmt wird, auch.
Seit dem verlustreichen Wahlsieg vom 24. September schiebt die CDU ihre Willensbildung vor sich her. Nachdem die Union mit einem Programm in den Bundestags-wahlkampf gezogen war, über das unter Ausschluss der Parteibasis lediglich die Führungsgremien von CDU und CSU entschieden hatten, sollte die Partei wenigstens das Ergebnis absegnen. Der Vertrag einer „Jamaika-Koalition“, so versprach Angela Merkel im Herbst, werde auf einem Parteitag zur Abstimmung vorgelegt.
Die Jamaika-Koalition kam nicht, der für Mitte Dezember geplante Parteitag auch nicht. Eine Klausurtagung wurde abgesagt, mehrere Regionaltreffen verschoben, dann ging es nach dem CSU-Parteitag in die Weihnachtspause. Und seitdem ist die Christlich Demokratische Union Deutschlands als Partei wieder auf die Zuschauerplätze verbannt. Und für wie lange sie dort noch sitzen soll, wird ihr ihre Vorsitzende ihr kaum sagen. Die Antwort ist aber schlicht: Bis die SPD-Mitglieder entschieden haben, über was die CDU-Mitglieder noch zu sprechen haben.
Nicht erst seit dem Wochenende, als die Führungsriege der SPD sich von ihrem Parteitag ein Verhandlungsvotum teils ertrotzte, teils erkaufte und teils erbettelte, fragt sich mancher in der CDU, wer eigentlich die Wahl gewonnen und wer sie verloren hat. „Uns ist in diesen Koalitionsverhandlungen wichtig, dass Deutschland eine stabile Regierung hat, die die Zukunftsfragen in Angriff nehmen kann“, sagte Angela Merkel am Sonntagabend im Konrad-Adenauer-Haus. Dass es ihr dabei darum gehe, dass die Zukunftsantworten deutlich erkennbar mit der Handschrift der CDU geschrieben werden, sagte die CDU-Vorsitzende nicht.
Das sagt auch das Sondierungspapier nicht, das die Spitzen-Genossen ihrem Parteitag anpriesen, als sei es bereits das Quasi-Versprechen von mehr sozialdemokratischer Wohltaten-Politik, als im eigenen Wahlprogramm zu finden ist.
Die Liste seiner Zielvorstellungen ist vielmehr ein Zeugnis von Fantasie- und Ambitionslosigkeit. Man wolle gemeinsam:
• einen neuen europapolitischen Aufbruch,
• den sozialen Zusammenhalt in unserem Land stärken und die entstandenen Spaltungen überwinden,
• unsere Demokratie beleben,
• dass die Menschen bei uns die vielfältigsten Chancen nutzen und in Sicherheit leben können,
• die Familien stärken und gleiche Bildungschancen für alle,
• unser Land erneuern, in die Zukunft investieren und Innovationen fördern, damit wir unseren Wohlstand ausbauen und auch zukünftig mit der weltweiten Dynamik mithalten können,
• den digitalen Wandel von Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft für alle Menschen positiv gestalten,
• einen größeren Beitrag leisten, um weltweit zu besseren Lebensbedingungen und Chancen beizutragen.
Schon die selbstgefällige Präambel des Papiers über die Erfolge der großen Koalition ist voller fragwürdiger Prämissen: „Die Wirtschaft boomt, noch nie waren so viele Menschen in Arbeit und Beschäftigung. Das ist auch Ergebnis der Regierungszusammenarbeit von CDU, CSU und SPD“, heißt es dort.
Zur Erinnerung: 2016 pendelte die offizielle Arbeitslosenzahl um rund 2,7 Millionen Menschen. Die Älteren werden sich erinnern, wie man eine solche Quote vor 30 Jahren nannte: Massenarbeitslosigkeit. Nirgendwo problematisiert das Papier, aus was genau die Rekorde bei „Menschen in Arbeit und Beschäftigung“ eigentlich gemacht sind — nämlich aus der niedrigsten durchschnittlichen Arbeitsstundenzahl pro Beschäftigtem seit der Wiedervereinigung.
1991 lag die durchschnittliche Arbeitszeit pro Beschäftigtem noch bei 1554 Stunden im Jahr, 2016 waren es nur noch 1363 Stunden. Dass die Wirtschaft boomt, aber die Voraussetzung für die Teilhabe an allgemeinem wirtschaftlichem Wohlstand nicht mitwächst, liegt nicht nur daran, dass mehr Arbeitskräfte mit immer weniger Arbeitskraft (zu deutsch: mehr Teilzeit und sogenannte atypische Arbeitsverhältnisse) vom Arbeitsmarkt absorbiert werden, sondern daran, dass der Boom nicht von Investitionen getragen ist.
Mit einer Investitionsquote von 20,1 Prozent (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) lag Deutschland im Frühjahr 2017 — wie bereits seit mehr als zehn Jahren — weiter noch unter dem Durchschnitt der Eurozone. Mag sein, dass sich an der sozialdemokratischen Basis für derartig ökonomische Feinheiten niemand interessiert.
Aber aus wirtschaftspolitischer Sicht der CDU wäre neben der Festschreibung einer Schuldenbremse eine Initiative für eine ebensolche Festschreibung einer Mindestinvestitionsquote der öffentlichen Hand ein weitaus wichtigeres Ziel als die Abschaffung grundlos befristeter Beschäftigungsverhältnisse, das Herumschrauben an der Krankenversicherung und freundlichere Härtefallregelungen für den Familiennachzug von Flüchtlingen — zumindest, wenn die CDU-Parteispitze zur Kenntnis nähme, dass an ihrer Basis vor allem der Verfall der öffentlichen Einrichtungen und Infrastruktur infolge von behördlichem Haushalts-Vandalismus nagt.
In den Passagen, die sich mit Migration und Zuwanderung befassen, soviel dürfte die CDU aus dem Wahlkampf wissen, wird ihre Basis nicht nur mit den Zahlen irgendwelcher Obergrenzen fremdeln, sondern unter einem Ansatz, der unter „Zuwanderung“ als erstes mit dem unantastbaren Grundrecht auf Asyl beginnt, und erst sehr viel weiter hinten formuliert: „Der Teil der Migration, den wir steuern können, muss sich primär an den volkswirtschaftlichen Interessen unseres Landes orientieren. Wir wollen ein modernes, in sich konsistentes Migrationsrecht schaffen. Dabei streben wir an, alle Migrationsfragen analog zur Systematik des Sozialgesetzbuchs grundlegend und einheitlich zu kodifizieren.“
Was das Sondierungspapier und später ein möglicher Koalitionsvertrag an Macken und Mängeln beinhaltet, wird die CDU-Basis — falls Merkels Versprechen nicht nur für Jamaika galt — aber auch auf einem Parteitag nicht mehr im Detail diskutieren können, weil es dort nur noch um die Zustimmung gehen kann. Wenn es denn überhaupt dazu kommt.
Denn vor alle Diskussionen innerhalb der CDU hat die SPD ihr Mitgliedervotum über einen Koalitionsvertrag gesetzt. Nach dem denkbar knappen Votum des Bonner Parteitags vom Sonntag spricht in Wahrheit wenig dafür, dass sich eine hauchdünne Mehrheit auch unter den 440 000 Mitgliedern finden lässt. Denn die Zusammensetzung der 642 Delegierten, von denen sich gerade einmal 56 Prozent für Koalitionsverhandlungen aussprachen, repräsentiert nicht die Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
Von den gerade einmal 362 „Ja“-Stimmen, die am späten Sonntagnachmittag im World Conference Center gezählt wurden, dürften rund vier Dutzend wohl auf den Parteivorstand selbst entfallen. Schon allein das stieß der Basis auf, dass kein einziges namhaftes Vorstandsmitglied während des ganzen Parteitags deutlich gegen eine große Koalition auftrat. Überwiegend bei den „Ja“-Stimmen dürfte sich auch ein Großteil der geschätzt 250 Mandatsträger und Abgeordneten aller Art eingefunden haben. Und, das wurde aus den recht offenen Gesprächen auf den Fluren und außerhalb des Plenums deutlich: Nicht wenige Delegierte votierten in Bonn entgegen der Stimmungslage in ihren Ortsvereinen und Unterbezirken.
Verfolgt man die Diskussionen des gestrigen Tages an der Basis und in den sozialen Netzwerken, spricht aktuell wenig dafür, dass die Mitgliederbasis das Votum des Parteitags auch nur entfernt als bindend in Bezug auf das eigene Stimmverhalten empfindet. Innerhalb der CDU fordert eine kleine, aber zunehmend lautstarke konservative Minderheit inzwischen ebenfalls eine Mitgliederbefragung statt lediglich eines Parteitags.
Die „WerteUnion”, ein bundesweiter Zusammenschluss von CDU- und CSU-Mitgliedern, die konservative und wirtschaftsliberale Kräfte innerhalb der Union stärker vernetzen will, verfügt trotz eigener Landesverbände derzeit wohl kaum über eine fünfstellige Zahl an Anhängern, doch sie könnte Angela Merkel noch richtig Ärger machen. Sie lehnt nicht nur eine Neuauflage der großen Koalition ab, sondern erklärte gleich nach der Wahl: „Grundvoraussetzung für den Abschluss eines Koalitionsvertrages durch CDU und CSU muss eine rigide Migrationspolitik, die weitere Aussetzung des Familiennachzugs von Flüchtlingen und die konsequente Rückführung abgelehnter Asylbewerber sein.“
Konkret fordere man auch „die Trennung von Kanzleramt und Parteivorsitz sowie den Rücktritt von Generalsekretär Peter Tauber“ als einem der Hauptverantwortlichen für den Linksrutsch der CDU. Und: „Dem neuen CDU-geführten Bundeskabinett sollten keine Minister mehr angehören, die durch ihre negative Außenwirkung maßgebliche Verantwortung für das schlechte Wahlergebnis tragen. Dies gilt im besonderen Maße für Ursula von der Leyen sowie Peter Altmaier.“
Das hätte Angela Merkel bei einem Parteitag 2017 wenig kratzen müssen. 2018 steht jedoch ihre Wiederwahl als CDU-Parteivorsitzende an — wenn sie denn noch einmal antritt. Das scheint derzeit jedoch so wenig sicher wie eine Fortsetzung der Koalition mit der SPD. Das Jahr könnte Neuwahlen in vielfacher Hinsicht bringen.