Wahl in Russland Putin vor Wiederwahl - "Russen haben mit der Freiheit schlechte Erfahrungen gemacht"
Mit dem sicheren Wahlsieg an diesem Wochenende herrscht Staatspräsident Wladimir Putin länger über Russland als Leonid Breschnew. Was nach ihm kommt, könnte schlimmer sein.
Moskau/Berlin. Der 11. Oktober 2006 war ein sonniger, warmer Herbsttag. Über Bayern strahlte der Himmel in den Landesfarben Weiß und Blau, auf der Stirn des Landesvaters dagegen zeichneten sich Falten des Ärgers ab: Eine geschlagene Stunde wartete Edmund Stoiber mit Trachtengruppe, Fahnenträgern und Blaskapelle vor dem Münchner Nationaltheater, bis Wladimir Putin den roten Teppich endlich betrat. Nebel am Airport, Landung unmöglich, lautete die offizielle Entschuldigung.
Am nächsten Morgen konnte Stoiber in der „Bild“-Zeitung nachlesen, was den russischen Staatspräsidenten tatsächlich in Dresden aufgehalten hatte: Putin, der gerne ausschläft, war nach geruhsamer Nacht in der standesgemäßen 300 Quadratmeter großen Kronprinzensuite des Hotels Kempinski zunächst durch die Dresdner Innenstadt flaniert. Dann ging er zum „Wiener Feinbäcker“, bestellte eine Walnuss-Schnecke und einen Kaffee für 4,79 Euro, unterhielt sich mit drei Bauarbeitern am Nachbartisch und ließ sich bei diesem betont lässigen Frühstück am Stehtisch bereitwillig fotografieren. Die klare Botschaft: Die Nummer 1 ist, wer andere warten lässt.
Seit der heute 65-Jährige, der Russland seit 18 Jahren regiert und am Sonntag (18.3.) selbstverständlich wiedergewählt wird, Stoiber 2006 eine Stunde in der Sonne stehen ließ, haben sich die Wartezeiten verlängert: 2014 ließ Putin in Mailand Angela Merkel zu Gesprächen über die Ukraine-Krise vier Stunden lang sitzen; er sah sich zuvor noch ausgiebig eine Militärparade in Serbien an.
Putins diplomatische Flegeleien sind ebenso Teil seines innenpolitischen Erfolgsgeheimnisses wie die im Westen verspotteten Bilder des Staatspräsidenten, der mit nacktem Oberkörper ein Pferd reitet, beim Angeln im Fluss steht oder wie am 6. Januar zum Epiphaniasfest im Beisein orthodoxer Popen ins Eisbad steigt. Putins Körper gehört nicht nur ihm selbst. Er ist die buchstäbliche Verkörperung Russlands.
Das System Putin ist das eines Alleinherrschers, der sich auf archaische Mechanismen stützt, von denen die westlichen Gesellschaften gerne glauben, sie schon vor Jahrhunderten überwunden zu haben. Der vor den Nazis in die USA geflohene Historiker Ernst Kantorowicz (1895-1963) beschrieb 1957 in seinem Buch „Die zwei Körper des Königs“, wie im 16. Jahrhundert in England eine Entwicklung einsetzte, an deren Ende der moderne Staat steht, der radikal unterscheidet zwischen der öffentlichen Funktion eines Regierungsamtes und der konkreten Person, die das Amt bekleidet. Die Kronjuristen von Elisabeth I. erklärten, der König habe zwei Körper: einen sterblichen und einen davon zu unterscheidenden „übernatürlichen“. Gemäß dieser Glaubensformel, die Religion und Staatslehre miteinander aussöhnte, starb mit dem personalen Körper des Königs nicht sein politischer: Der König ist tot — es lebe der König.
Es ist kein Zufall, dass das ganze Mittelalter hindurch alle Staats-Beschreibungen das Bild eines Körpers und seiner Glieder für die Beschreibung gesellschaftlicher Ordnungen bemühten. „Der politische Körper des Königs erscheint als Ebenbild der ,heiligen Geister und Engel’, weil er gleich den Engeln das Unveränderliche in der Zeit darstellt“, schreibt Kantorowicz. Nichts anderes sind die Inszenierungen Putins, der ein Russland im wahrsten Sinne des Wortes „verkörpert“, das seinen Betrachtern zeitlos erscheinen soll: Es ist die gemütliche Sowjetunion Nikita Chruschtschows und Leonid Breschnews (nur ohne Kommunismus), es ist die Weltmacht, die Westen gedemütigt hat, und das arme Mütterchen Russland, das Gorbatschow und Jelzin an die Oligarchen verkauft haben. Es ist das heilige Russland der Kirche, der Familie und der Fahne, das sich von den Knien zu alter Größe erhebt.
In Putin sind, mit den Worten Kantorowiczs, „der natürliche und politische Körper nicht verschieden, sondern vereint und wie ein Leib“. Der Berliner Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski vermutet wohl zurecht, dass Putin für zahlreiche Russen nicht Verstaatlichung, Ermordung politischer Gegner, Zensur und permanenten Krieg, sondern Stabilität, Ordnung und bescheidenen Wohlstand verkörpert. „Deshalb würden ihn viele selbst dann wieder wählen, wenn die Wahl absolut frei wäre“, so Baberowski dieser Tage in einem Interview mit dem Portal t-online. Starke Herrscher, die den Machtstaat repräsentierten, seien die Regel in der russischen Historie: „Putin gehört in diese Kategorie. Es ist tragisch, aber die Russen haben in ihrer Geschichte mit den Experimenten der Freiheit stets schlechte Erfahrungen gemacht, und deshalb geben viele autoritären Ordnungen den Vorzug gegenüber liberalen Freiheitsversprechen.“
Seit Putin nach einer Karriere beim sowjetischen Geheimdienst KGB und dann dem FSB Ende 1999 in der Nachfolge Boris Jelzins zum Präsidenten der Russischen Föderation aufstieg, führt er im Inneren wie im Äußeren beständig Krieg. Zunächst setzte er Jelzins zweiten Krieg gegen Tschetschenien mit militärischer Rücksichtslosigkeit fort, verhielt sich aber zugleich kooperativ gegenüber dem Westen und dessen „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001. Das Verhältnis zum Westen verschlechterte sich erst 2008, als Russland im Georgien-Krieg die Teilrepubliken Abchasien und Südossetien formal als unabhängig anerkannte, faktisch aber besetzte.
Innenpolitisch machte Putin, der sich aufgrund von Verfassungsvorschriften für eine Wahlzeit auf das Amt des Ministerpräsidenten zurückziehen musste, damit jedoch klar, wer die Macht im Land hatte: Nicht Staatspräsident Dimitri Medwedjew, den der Kriegsherr Putin in den Hintergrund drängte. Dass er damit im Westen vorübergehend zum Paria wurde, schadete ihm innenpolitisch damals so wenig wie derzeit die Vorwürfe der britischen Premierministerin Theresa May, Russland stecke hinter der Vergiftung des russischen Ex-Doppelagenten Sergej Skripal und habe eine Geschichte „staatlicher Auftragsmorde“. In Putins Anhängerschaft gilt das nicht als Verfehlung, sondern als gerechte Strafe für Verräter.
In den 18 Jahren seiner Herrschaft hat Wladimir Putin die russische Gesellschaft und Wirtschaft konsequent entdemokratisiert und unter seine Kontrolle gebracht. Wirtschaftlich ist vielen Russen das lange Zeit gut bekommen: Von 1999 bis 2010 stiegen die durchschnittlichen Einkommen von 62 auf 772 US-Dollar pro Monat, auch die Renten kletterten von 18 auf 285 Dollar — trotz der Finanzkrise 2008. Erst nach Putins Rückkehr auf den Präsidentenstuhl 2012 und der Ukraine-Krise ab dem Frühjahr 2014 mit der Annexion der Krim wendete sich das Blatt: Die von Öl- und Gas-Exporten abhängige russische Wirtschaft brach krachend ein, aber Putins schlimmste Angst, ihm könne ähnlich wie in der Ukraine ein „russischer Maidan“ drohen, war zunächst abgewendet. Es geht den Russen schlechter, aber Putins Zustimmungswerte liegen bei rund 80 Prozent.
Doch das kann immer weniger verbergen, dass das „zeitlose“ Russland, das Putin in seiner Person verkörpert, in Wahrheit bloß aus der Zeit gefallen ist. Russlands Wirtschaft stagniert und bleibt rohstoff-abhängig. Wichtige Reformen wie die Senkung des Staatsanteils (heute rund 70 Prozent) an der Wirtschaft, die Herstellung von Rechtssicherheit, Marktöffnungen, Bekämpfung der Korruption und Abbau der Bürokratie bleiben aus Angst vor dem Verlust von Macht und Kontrolle aus; das Land stagniert und stöhnt unter den Kosten seiner militärischen Abenteuer in der Ost-Ukraine und Syrien. Ein Ende der EU-Sanktionen ist nicht in Sicht, die Konfrontationen mit den USA und China werden unübersichtlicher.
Mit seiner Wiederwahl werde Putin Leonid Breschnew als am längsten herrschenden russischen Führer nach Stalin überholt haben und eine ganz Generation prägen, die mit 18 in diesem Jahr das erste Mal wählt und nur Putin als nationale Integrationsfigur kenne, so Stefan Meister in einer Publikation der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Nachdem Putin sich mit seiner Wiederwahl 2012 dafür entschieden habe, nicht mehr Präsident aller Russen zu sein, sondern nur der konservativen, vor allem kleinstädtischen und ländlichen Mehrheit, stehe er mit vor einem wachsenden Generationenkonflikt, meint der Leiter des Robert Bosch-Zentrums für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP.
Mit dem Kampf gegen die vermeintliche „fünfte Kolonne des Westens“ habe Putin zur eigenen Machtkonsolidierung den urbanen, mobilen und aktiven Teil der Russen aus dem Land getrieben. Aber: „Jetzt ist mit Alexei Nawalny ein Kandidat zur Wahl nicht zugelassen worden, der mit seiner Kampagne in den sozialen Medien vor allem junge Menschen mit Themen wie Korruption, sozialer Gerechtigkeit und Freiheit anspricht und gnadenlos die Schwächen des Systems Putin offenlegt: Korruption, Selbstbereicherung, Arroganz und Realitätsverlust.“
Der 41-jährige Rechtsanwalt Alexej Nawalny führt seit 2011 den interessantesten Teil der russischen Opposition gegen Putin an. Nawalny appelliere an die positiven Gefühle vor allem junger Russen, so Stefan Meister: „Dies ist ein wunderbares Land, ihr könnt es gestalten, wenn diese korrupten Eliten nicht mehr an der Macht wären, das ist seine Botschaft. Während Putin über die Vergangenheit spricht, redet Nawalny über die Zukunft.“ Was Putin vor allem irritierte: Die Proteste vom März, Juni und Oktober fanden erstmals nicht nur in den liberalen Metropolen, sondern an etlichen kleinen Orten in der Provinz statt — und sie waren nicht zentral organisiert. Noch steht die absolute Mehrheit der 109 Millionen russischer Wähler hinter ihm.
Die „Zeit“ beschrieb Putins Russland jüngst als ein Panoptikum in Starre und Agonie, dessen Institutionen ausgehöhlt und durch persönliche Beziehungen ersetzt wurden: „Die Duma ist den Namen ,Parlament’ nicht wert, seine Partei Einiges Russland wirkt im Vergleich zur eisernen KPdSU wie eine Briefkastenfirma auf Kamtschatka. An die Stelle des Glaubens an den Marxismus-Leninismus ist die bedingungslose Loyalität zum Präsidenten getreten. Der Historische Materialismus, der seit Marx den gesetzmäßigen Fortschritt der Menschheit in eine lichtere Zukunft beschrieb, ist heute durch die Einsicht ersetzt, dass der Präsident Russlands alternativlos ist.“
Um das Putinsche System zu beschreiben, zitieren viele den Duma-Vorsitzenden Wjatscheslaw Wolodin: „Wenn es Putin gibt, existiert auch Russland. Ohne Putin kein Russland.“ Das ist die Gefahr, die Westen noch mehr fürchten muss, als Putins letztlich berechenbare Kapriolen. Wenn der, der das Land ganz allein verkörpert, eines Tages abtritt, könnte der politische Körper Russlands zerfallen.