Warum Martin Schulz noch einmal alles auf eine Karte setzte — und verlor
Der SPD-Politiker spekulierte auf einen einflussreichen Posten als EU-Kommissar. Nun bleibt er wohl weiterhin Parlamentspräsident.
Berlin/Brüssel. Was ritt Martin Schulz am Mittwoch? Gerade war er in Brüssel mit überwältigender Mehrheit zum Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament gewählt worden. Danach sagte der frühere Buchhändler aus Würselen bei Aachen einen folgenschweren Satz in die Kameras: „Ich habe diese Ambition, Vizepräsident der EU-Kommission zu sein und gemeinsam mit Jean-Claude Juncker ein Tandem zu bilden.“
Zu diesem Zeitpunkt wissen sehr viele in Brüssel und Berlin, dass dieses Rennen für den 58-Jährigen aussichtslos ist — wie auch der Kampf um den Chefposten der EU-Kommission, der ziemlich sicher an den konservativen Rivalen Juncker gehen dürfte. Der emotionale Schulz wollte wohl mit dem Kopf durch die Wand, sich nicht kleinlaut mit der doppelten Niederlage abfinden — was nun seine persönliche Fallhöhe unnötig vergrößert hat.
In der Union, wo Schulz viele Gegner hat, kam der Auftritt ganz schlecht an. Der Koalitionspartner beauftragte schon am Donnerstag keinen geringeren als den Bundesfinanzminister, Klartext zu reden. In einem Interview kanzelte Wolfgang Schäuble die Ambitionen ab. Der CDU-Politiker erregte sich, wie der Wahlverlierer SPD auf die Idee komme, Ansprüche auf den deutschen Kommissionsposten zu erheben — das sei Domäne der Union.
Am Freitag zog Sigmar Gabriel schließlich die Notbremse. Die Sozialdemokraten wollten sich bei der Personalie Schulz ohne Aussicht auf Erfolg nicht verkämpfen und das Koalitionsklima belasten. Gabriel erklärte, dass die SPD nicht mehr auf einen Kommissionsposten für Schulz pocht, wenn dieser Parlamentschef bleibe. Für Gabriel sicher ein schmerzlicher Schritt, weil Schulz zu seinen loyalsten politischen Freunden zählt.
Gemeinsam hatten sie die erfolgreiche Europawahl-Kampagne umgesetzt. Am 25. Mai, dem Wahlabend, platzte das Willy-Brandt-Haus aus allen Nähten. 500 Anhänger skandierten „Martin, Martin“. Gabriel rief von der Bühne: „Wir sind super stolz darauf, dass Du einer von uns bist!“ Schulz, der bei mehr als 200 Auftritten auf Englisch, Französisch, Niederländisch oder Italienisch für sein Europa kämpfte, stand scheinbar im Zenit seiner Karriere.
Die höhere Wahlbeteiligung, mehr als 27 Prozent für die SPD, die Popularität in ganz Europa — nach dem Gefühl der Sozialdemokraten war Schulz moralischer Sieger. Es gab nur einen Makel: Die Konservativen mit Juncker holten die Mehrheit bei der Wahl. Schulz aber fuhr nach der Wahlparty in Berlin mit dem Gefühl im Bauch nach Brüssel, dass da noch was geht.
Schließlich hatten Gabriel und Schulz mit der auf das Duell der Spitzenkandidaten zugeschnittenen Kampagne einen Coup gelandet und Angela Merkel auf der Europa-Bühne einen Stich versetzt. Die Kanzlerin musste akzeptieren, dass der Kommissionschef, wie den Wählern versprochen, einer der Spitzenkandidaten ist und vom EU-Parlament getragen wird. Alles andere wäre „Volksverdummung“ gewesen, meinte Gabriel.
Bei der SPD trösten sie sich nun damit, dass es Schulz gelungen sei, wie kein anderer Emotionen für Europa geweckt zu haben. Schulz bleibe ein „Mister Europa“ der Bürger — Merkel sei zwar Taktgeberin auf dem Kontinent, geachtet und gefürchtet, aber nicht geliebt. Und doch wirkte es am Freitag wie ein Gnadenakt, als die Kanzlerin die für Schulz erlösenden Worte sprach, dass die deutsche Fraktion der Konservativen seine Wiederwahl zum Parlamentschef mittragen würde.