Wenn Fakten zu Meinungen verkommen
Meinungsfreiheit wird zur Farce, wenn die Information über Tatsachen nicht garantiert ist, schrieb Hannah Arendt vor 50 Jahren über „Wahrheit und Politik“. Die ständige Vermischung von Tatsachen und Meinungen ist die Axt, die sich gegen die Wurzel der Demokratie richtet: die Urteilskraft der Wählerinnen und Wähler.
Berlin/München. Die jüngste Warnung vor den Folgen des Trumpismus kommt von Michiko Kakutani. Bis 2017 schärfste und einflussreichste Literaturkritikerin der „New York Times“, listet die Pulitzerpreisträgerin in „The Death of Truth“ (Der Tod der Wahrheit) noch einmal hilf- und fassungslos auf, wie vom Tag der Amtseinführung an kein Tag vergangen ist, an dem Donald Trump die Öffentlichkeit nicht nach Strich und Faden belogen hätte. Kakutani zitiert eine Analyse der „Washington Post“, laut der es der 45. US-Präsident im ersten Jahr auf 2140 belegbare Falschbehauptungen brachte — das sind 5,9 öffentliche Lügen pro Tag. Trump lügt über seine Russland-Connection, Trump lügt über Nato-Kosten, Trump lügt über Wirtschaftszahlen, Trump lügt über seine Mexico-Mauer, Trump lügt, lügt, lügt — und kommt damit durch.
Dass Lügen auch in gefestigten Demokratien zur Politik gehören wie das Weihwasser zur katholischen Kirche, ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis. Von Barschels Ehrenwort 1987 über die erfundenen „jüdischen Vermächtnisse“ in der CDU-Spendenaffäre 1999 bis zu den fabrizierten US-Begründungen 2003 für den zweiten Irak-Krieg — auf internationaler Ebene gehört das gezielte Verbreiten von Unwahrheiten zum täglichen politischen Geschäft — ebenso wie ihre öffentliche Enttarnung und regelmäßige Abstrafung zur Wiederherstellung gesitteter Verhältnisse.
Was aber passiert, wenn gelegentliches Lügen durch systematische Verlogenheit ersetzt wird? „Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird“, warnte Hannah Arendt vor 50 Jahren.
„Das Errichten Potemkinscher Dörfer, das bei Politikern und Propagandisten der unterentwickelten Länder so beliebt ist, wird nie zu der Errichtung wirklicher Dörfer führen, wohl aber zu einer Verbreitung illusionären Wunschdenkens und einer Vervollkommnung in den mannigfachen Künsten zu lügen und zu betrügen."
Hannah Arendt (Foto: UPI/dpa)
Noch vor der Veröffentlichung der „Pentagon-Papiere“ 1971, die das jahrzehntelange Lügen mehrerer US-Regierungen über Vietnam enthüllten, und dem folgenden Watergate-Skandal beschäftigte sich die deutsch-amerikanische Philosophin und Publizistin (1906-1975) mit dem Verhältnis von Wahrheit und Politik, insbesondere in demokratischen Gesellschaften. Das Besondere an Arendts Ansatz: Diskursen der klassischen Philosophie folgend, zieht sie die erste und wichtigste Konfliktlinie für den politischen Prozess nicht zwischen Wahrheit und Lüge, sondern zwischen Tatsachen und Meinungen.
Wenn Lügner auf den Plan träten, würden „unbequeme geschichtliche Tatbestände, wie dass die Hitlerherrschaft von einer Mehrheit des deutschen Volkes unterstützt oder dass Frankreich im Jahre 1940 von Deutschland entscheidend besiegt wurde oder auch die profaschistische Politik des Vatikans im letzten Krieg (… ) behandelt, als seien sie keine Tatsachen, sondern Dinge, über die man dieser oder jener Meinung sein könne. (…) Was hier auf dem Spiele steht, ist die faktische Wirklichkeit selbst, und dies ist in der Tat ein politisches Problem allererster Ordnung.“
Donald Trump, der bereits seine Immobilien-Karriere mit permanenter Lügnerei betrieb, begann seine politische Laufbahn entsprechend, indem er Fakten nicht anerkannte und als bloße Meinungen abtat, über die man anderer Ansicht sein könne. Wenn ein Lügner nicht über die Macht verfüge, seine Fälschung öffentlich als Wahrheit zu etablieren, werde er daher erklären, „dies sei eben seine Ansicht von der Sache, für die er dann das Recht der Meinungsfreiheit in Anspruch nimmt. Subversive Gruppen haben sich dieses Mittels häufig bedient, und in einer politisch ungeschulten Öffentlichkeit kann die daraus entstehende Verwirrung beträchtlich sein. Die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen ist eine der Formen der Lüge“, so Arendt.
Im Frühjahr kam eine Untersuchung des Washingtoner Pew Research Center (siehe Grafik) zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der erwachsenen Amerikaner Tatsachen-Behauptungen und Meinungs-Äußerungen nicht mehr klar voneinander unterscheiden kann. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt oder ihrer persönlichen Ansicht sollten die Teilnehmer der repräsentativen Untersuchung jeweils fünf Tatsachen-Behauptungen (Beispiel: „Die US-Gesundheitskosten pro Person sind die höchsten aller Industrieländer.“) und fünf Meinungs-Äußerungen (Beispiel: „Abtreibung sollte in den meisten Fällen legal sein.“) als solche erkennen.
Erwartungsgemäß schnitten Teilnehmer mit großem politischen Interesse, hoher digitaler Kompetenz, großem Vertrauen in klassische Medien und großem Nachrichten-Interesse dabei besser ab (siehe Grafik). Aber nicht einmal der Hälfte von ihnen gelang die korrekte Unterscheidung in allen Fällen. Die PRC-Forscher fanden zudem belegt: Sowohl Anhänger der Republikaner wie auch der Demokraten neigten dazu, eine Aussage als sachlich einzustufen, „wenn sie ihre Seite bevorzugt — sei es tatsächlich eine Fakten-Aussage oder bloß eine Meinung.“
Und: Mit „überwältigender Mehrheit“ betrachteten die Amerikaner Aussagen, die sie als Tatsachenbehauptungen einstuften, auch sachlich als korrekt, wogegen sie fälschlicherweise als Meinung-Äußerung eingestufte Tatsachen-Aussagen auch sachlich für falsch hielten. Die schlechte Nachricht der Untersuchung für die US-Medien: Wurden die Aussagen mit eine Nachrichten-Agentur als Quelle verbunden, so erhöhte das nicht signifikant die Fähigkeit der Teilnehmer, eine Fakten-Aussage als Fakten-Aussage zu erkennen. Bei den einzelnen Bewertungen ging es wild durcheinander: Die klare Tatsachen-Aussage „Präsident Barack Obama ist in den Vereinigten Staaten geboren worden“ ordneten 22 Prozent lediglich als Meinung ein. Die reine Meinungs-Äußerung „Immigranten, die sich illegal in den USA aufhalten, sind heute ein sehr großes Problem für das Land“ ordneten 31 Prozent als Fakten-Aussage ein.
Erklärt das, warum der notorische Lügner Trump, der ihm missliebige Fakten zu Meinungen degradiert oder als „Fake News“ denunziert, während er seine groben Unwahrheiten als „alternative Fakten“ verbreiten lässt, sich noch immer stabiler Zustimmung erfreut? Am 30. Juli, nach 558 Tagen im Amt, lag die „Washington-Post“-Zählung bei 4229 falschen und irreführenden öffentlichen Behauptungen Trumps. Wirklich jeder, der wissen will, ob Trump lügt oder die Wahrheit sagt, könnte das mit Leichtigkeit überprüfen und ohne großen Aufwand zu der Erkenntnis kommen, dass im Vergleich zu Trump selbst Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan zurückhaltende Wirklichkeitsverdreher sind. In der Welt-Unordnung, die Donald Trump gerade etabliert, müsste nicht einmal mehr Richard Nixon wegen Watergate zurücktreten.
Die Yale-Juristin Amy Chu hat vor einigen Wochen in der Außenpolitik-Zeitschrift „Foreign Affairs“ auf einen in gesellschaftlichen Diskussionen gern vernachlässigten Umstand hingewiesen, der zusätzlich erklären kann, warum die offenkundige Verlogenheit Trumps seine Anhänger nicht abschreckt. Chu, in Deutschland vor allem wegen ihres rabiat-asiatischen Erziehungsratgebers für „Tigermütter“ bekannt, stellt die These auf, dass „Stammeszugehörigkeit“ keineswegs nur in außerwestlichen Staaten mehr politisches Gewicht hat, als es das Fundament gemeinsamer Überzeugungen zu erzeugen vermag: „Was bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 passiert ist, ist genau das, was ich in einem Entwicklungsland erwartet hätte, das Wahlen in Anwesenheit einer zutiefst geprellten, marktbeherrschenden Minderheit abhalten würde: der Aufstieg einer populistischen Bewegung, in der demagogische Stimmen ,echte’ Amerikaner auffordern, in Donald Trumps Worten, sich ,unser Land’ zurückzuholen.“
Trumps „Stamm“, in Bezug auf Geschmack, Sensibilitäten und Werte, sei die weiße Arbeiterklasse. Sowohl als Kandidat wie als Präsident habe Trump viele Aussagen gemacht, „die entweder explizit oder in kodierter Weise die rassistischen Neigungen einiger weißer Wähler bestätigen“. Aber das sei nicht das ganze Bild, so Chu: „Beim Stammesinstinkt dreht sich alles um Identifikation, und viele Wähler in Trumps Basis identifizieren sich mit ihm aus dem Bauch heraus. Sie identifizieren sich mit der Art, wie er spricht und wie er sich kleidet. Sie identifizieren sich mit der Art und Weise, wie er aus der Hüfte schießt — sogar (besonders) wenn er dabei ertappt wird, Fehler zu machen, zu übertreiben oder zu lügen. Und sie identifizieren sich mit der Art und Weise, wie er von liberalen Kommentatoren — meist Küsteneliten — angegriffen wird, weil sie selbst nicht politisch korrekt sind, weil sie nicht feministisch genug sind, weil sie nicht genug Bücher lesen und im Schnellimbiss fressen.“
Hannah Arendt warnte, die Neigung, Tatsachen in Meinungen aufzulösen oder den Unterschied zwischen ihnen zu verwischen, zerstöre am Ende die Urteilsfähigkeit der Wählerinnen und Wähler: „Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über Tatsachen nicht garantiert ist.“ Zugleich seien unwillkommene Tatbestände „von einer unbeweglichen Hartnäckigkeit, die durch nichts außer der glatten Lüge erschüttert werden kann“, weshalb in einer Welt, in der man mit Tatsachen nach Belieben umspringe, die einfachste Tatsachenfeststellung bereits eine Gefährdung der Machthaber sei. Arendt münzte dies in den 60er Jahren auf die totalitären Regime des Ostblocks. In voll entwickelten Demokratien sei Täuschung ohne Selbsttäuschung dagegen nahezu unmöglich. Allerdings: „Es ist der am erfolgreichsten, der seine Lügen auch selbst glaubt.“ Daran dürfte bei Trump kein Zweifel bestehen.
Laut einer aktuellen Umfrage des Marktforschungsinstituts Ipsos würde inzwischen knapp ein Viertel der Amerikaner ihrem Präsidenten erlauben, Medien-Betriebe bei „nicht gutem“ Verhalten zu schließen. 29 Prozent schließen sich Trumps Hetze an, die Medien seien „Feinde des amerikanischen Volkes“. Anders, als der neue Untertitel der „Washington Post“ nahelegt, stirbt Demokratie nicht in der Dunkelheit. Sie stirbt im grellen Scheinwerferlicht des Desinformationssenders „Fox News“, dem 77 Prozent der Republikaner vertrauen. Nach dem „postfaktischen“ bricht dann das post-demokratische Zeitalter an. Was Arendt sich wohl nicht hatte träumen lassen, ist, dass ihre auf Länder der Dritten Welt gemünzte Diagnose eines Tages auch auf die Gespaltenen Staaten von Amerika zutreffen würde: „Das Errichten Potemkinscher Dörfer, das bei Politikern und Propagandisten der unterentwickelten Länder so beliebt ist, wird nie zu der Errichtung wirklicher Dörfer führen, wohl aber zu einer Verbreitung illusionären Wunschdenkens und einer Vervollkommnung in den mannigfachen Künsten zu lügen und zu betrügen.“
Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik: Zwei Essays. Piper Taschenbuch, 2013. 96 Seiten, 10 Euro.
(Englisch) Amy Chu: Political Tribes. Group Instinct and the Fate of Nations. Penguin Press, 2018. 304 Seiten, ab 11,99 Euro.
(Englisch) Michiko Kakutani: The Death of Truth. Harper Collins Publ. UK, 2018. 208 Seiten, ab 7,45 Euro.