Bücher aus dem Giftschrank: Wenn Studenten nachfragen müssen
Münster (dpa) - Weit über 100 Bücher hat Max Keldenich im Verlauf seines Studiums an der Universität Münster ausgeliehen. Mehr als seinen Studentenausweis hat der Geschichtsstudent dafür nie benötigt.
Umso mehr wundert sich der 25-Jährige, als er für eine Hausarbeit zur Geschichte des Antisemitismus ein Buch des Autors Wilhelm Marr als Quelle nutzen will - und im Institut „Judaicum Delitzschianum“ gar nicht erst zu sehen bekommt.
„Ich habe das Buch nicht gefunden“, sagt Keldenich, „und daraufhin eine Mitarbeiterin angesprochen. Sie sagte mir, das Buch befände sich im sogenannten Giftschrank.“ Um es in der Bibliothek auch nur einsehen zu können, brauche er eine Bestätigung seines Dozenten. Der wissenschaftliche Zweck für die Ausleihe müsse nachgewiesen werden.
Keldenich ist nicht der erste Student, der eine solche Überraschung erlebt: In Universitätsbibliotheken sind zahlreiche Bücher - sogenannte „Remota“ - oft nicht direkt zugänglich und in einem eigenen Raum gelagert. Sie dürfen nur unter bestimmten Auflagen genutzt werden. Dies betrifft vor allem Schriften aus der Zeit des Nationalsozialismus, aber ebenso allzu Freizügiges oder alte Fahndungsbücher.
Der Grund: Auch Bibliotheken müssen gesetzliche Regelungen beachten, vor allem die des Straf- und des Jugendschutzgesetzes, erklärt Arne Upmeier, stellvertretender Vorsitzender der Rechtskommission des Deutschen Bibliotheksverbands. Die Bibliothekare leihen deshalb bestimmte Bücher nicht an Minderjährige aus oder stellen sie nur zu wissenschaftlichen Zwecken zur Verfügung, weil das Gesetz ihre Verbreitung unter Strafe stellt.
„Die gesetzlichen Regelungen bedürfen oft einer schwierigen Auslegung“, sagt Upmeier. Deshalb ist der Umgang mit den Remota von Bibliothek zu Bibliothek unterschiedlich: So sind in der Universitätsbibliothek in Bielefeld 5400 Bücher sowie andere Medien abgesondert, während die TU Dortmund rund 300 Titel separiert hat. Dagegen ordnen die jeweiligen Einrichtungen in Köln („weniger als 100“), Wuppertal („weniger als 30 Bücher“) und Aachen („etwa 20 Bände“) weit weniger Werke als Remota ein.
„Der verantwortungsbewusste Umgang damit ist Teil der bibliothekarischen Ausbildung. Insbesondere bei NS-Literatur muss abgewogen werden zwischen dem berechtigten historischen Interesse der Öffentlichkeit und der potenziellen Straftat“, sagt Upmeier.
Ein Problem für die Arbeit der Bibliothekare: Das Internet. „Wir führen einen Kampf, der in gewisser Weise von gestern ist. Online finden sie ohne große Umstände viele dieser Schriften“, sagt Stephan Kellner, Mitarbeiter der Bayrischen Staatsbibliothek und Experte für Bibliotheksgeschichte. „Als öffentliche Institution müssen wir aber sorgsam mit diesen Büchern umgehen. Wir wollen verhindern, dass wir eine bestimmte Klientel anziehen.“
Auch Geschichtsstudent Keldenich aus Münster kam letztlich ohne eine Bestätigung seines Dozenten - der während der Semesterferien in der Heimat weilte - an das für seine Hausarbeit benötigte Buch mit dem Titel „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“. Keldenich: „Ich habe mich zu Hause an den Computer gesetzt und das Buch gesucht. Über die Seite der Unibibliothek Frankfurt war es ohne Probleme online abrufbar.“
Im Judaicum in Münster wird Marrs Schrift von 1879 nämlich nicht aus rechtlichen Gründen zurückgehalten. „Wir möchten nicht, dass über unser Institut antisemitische Literatur verbreitet wird und mit unserem Stempel im Internet auftaucht“, sagt Jacobus Cornelis de Vos, der Vertretungsdirektor des Instituts. Er findet: „Das kann sehr schnell missbraucht werden. Diese pseudo-wissenschaftliche antisemitische Argumentation gibt es auch in der heutigen Gesellschaft.“