Lebensläufe im Blick: Auch Sitzenbleiber machen Karriere
Bamberg (dpa) - Bamberger Bildungsforscher beobachten den Lebensweg von 60 000 Deutschen - vom Baby bis zum Erwachsenen. Manches Ergebnis überrascht. Wer in der Schule einst sitzenblieb, erfährt späte Genugtuung.
Acht Jahre Gymnasium oder doch besser G9? Waldorf oder Montessori? Beim Thema Bildung gehen die Meinungen weit auseinander. Denn verlässliche Langzeitdaten zu den unterschiedlichen Angeboten gibt es erst wenige. Hans-Günther Roßbach ist gerade dabei, das zu ändern.
Der Bamberger Universitätsprofessor beobachtet gemeinsam mit anderen Forschern seit fünf Jahren den Lebensweg von 60 000 überwiegend jungen Deutschen. Es geht darum, in welche Sportvereine sie gehen, auf welche Schulen sie wechseln, ob sie Nachhilfe brauchen oder welche Berufe und Studiengänge sie wählen. Teilnehmer der ungewöhnlichen Studie sind Babys, Kindergartenkinder, Schüler, Studenten, aber auch Berufstätige. „Vor allem geht es uns darum, wie sich die Teilnehmer im Laufe der Jahre geistig weiterentwickeln und durch was diese Entwicklung gefördert oder gebremst wird“, sagt Roßbach. „Wir Wissenschaftler sprechen dabei von den kognitiven Fähigkeiten.“
Die Teilnehmer müssen einmal im Jahr Matheaufgaben lösen, etwas vorlesen, naturwissenschaftliche Fragen beantworten oder - im einfachsten Fall - einen Fragebogen ausfüllen. Alle Fäden laufen in Bamberg zusammen. Anhand der Ergebnisse erstellt Roßbach mit seinem Team das sogenannte „ Nationale Bildungspanel“ (NEPS). Ein riesiger Datenpool, den Forscher für eigene Studien kostenlos anzapfen können. „Auf das NEPS greifen mittlerweile 700 Wissenschaftler aus 15 Nationen zu“, sagt Roßbach.
So konnten Wissenschaftler mit den NEPS-Daten die Bildungsabschlüsse von Kindern und deren Eltern relativ unkompliziert miteinander vergleichen. „Deutsche Kinder sind demnach Bildungsaufsteiger - sie haben zumeist höhere Bildungsabschlüsse als ihre Eltern“, sagt Roßbach. Und dabei spiele ein Migrationshintergrund überraschenderweise keinerlei Rolle: „Kinder mit Migrationshintergrund sind in diesem Fall weder benachteiligt noch bevorzugt, das geht aus NEPS deutlich hervor.“
Ein anderes Forschungsteam verwendete die Bamberger Datenbank, um die Folgen des Sitzenbleibens zu untersuchen. Roßbach: „Klassenwiederholer und Nichtklassenwiederholer unterscheiden sich in ihrer Berufskarriere demnach überhaupt nicht.“ Offensichtlich gebe es genügend Möglichkeiten, die negativen Erfahrungen zu kompensieren. „Vielleicht sollte man die öffentliche Schimpfe auf das Sitzenbleiben etwas überdenken“, meint der Erziehungswissenschaftler Roßbach.
Der Wissenschaftsrat bezeichnet NEPS als das „derzeit bedeutsamste Projekt der deutschen Bildungsforschung“. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Wolfgang Marquardt, ist sich sicher: „Der Wert dieser Daten wird sich noch weiter erhöhen, je länger die Bildungskarrieren der Teilnehmenden verfolgt werden können.“ Mindestens über einen Zeitraum von zehn Jahren wollen die Forscher die 60 000 Testpersonen begleiten. Um die NEPS-Datenbank in Bamberg zu füllen, treibt das Team um Roßbach einen enormen Aufwand: Es führt jedes Jahr rund 100 000 Befragungen durch. Denn auch die Erzieherinnen, Lehrer, Schulleiter oder Eltern der 60 000 Teilnehmer werden in die Studie einbezogen.
Das Nationale Bildungspanel war anfangs ein Projekt, das vom Bundesbildungsministerium finanziert und von der Universität Bamberg durchgeführt wurde. Im Januar wurde daraus ein selbstständiges Institut - das „Leibnitz Institut für Bildungsverläufe an der Uni Bamberg“. Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) eröffnet es an diesem Montag ganz offiziell.
Die jüngsten Teilnehmer waren beim Start im Jahr 2009 sieben Monate alte Babys. „Die konnten natürlich noch keine Fragen beantworten“, sagt Roßbach. Die Forscher haben den Säuglingen auf Bildschirmen Zahlen und Muster gezeigt. „Kommt immer das selbe Muster, fängt das Kind an zu gähnen. Kommt etwas Neues, achtet es wieder auf den Bildschirm“, erläutert der Bildungsexperte. Die Zeitspanne zwischen beiden Reaktionen lasse Rückschlüsse auf die kognitiven Fähigkeiten zu. Wie diese sich in den kommenden Jahren bis zum Erwachsenenalter entwickeln werden, darauf sind die Forscher mehr als gespannt.