Wenn der Beruf das Leben beherrscht
Hannover (dpa/tmn) - Erfolg im Beruf will wohl jeder gerne haben. Die Arbeit ist für viele mehr als ein Job. Wenn jemand nur noch für den Beruf lebt, kann das aber krankhaft werden. Rund 400 000 Menschen in Deutschland sind Schätzungen zufolge süchtig nach Arbeit.
Im Leben von Manfred Köhler (Name geändert) spielten Familie und Freunde irgendwann nur noch eine Nebenrolle. Sogar der Tod der eigenen Mutter war nicht so wichtig wie die Arbeit. Als sie starb, nahm sich Köhler keine Zeit zum Trauern, ging nach der Beerdigung sofort wieder ins Büro. „Ich habe das zuerst einfach nicht ernst genommen“, sagt er im Rückblick. „Ich fand das toll, ich machte viel und dachte mir: Was wollt ihr denn alle von mir?“ Doch was Außenstehende schon viel früher erkannten, wurde auch Köhler irgendwann klar: Er war arbeitssüchtig.
Köhler wirkt wie ein ganz normaler Mann Anfang 60, der mitten im Leben steht: Er trägt Jeans, ein kariertes Hemd und einen gepflegten Vollbart. Seine Vergangenheit sieht man ihm nicht an, aber er kämpfte jahrelang mit seiner Sucht. Häufig saß der Projektleiter und Trainer in der Erwachsenenbildung bis spät abends am Schreibtisch, vergaß dabei sogar zu essen oder eine Pause zu machen. Auch danach verfolgte ihn die Arbeit oft noch. „Ich konnte einfach nicht ertragen, wenn etwas liegen blieb. Dann habe ich häufig die ganze Nacht davon geträumt“, sagt Köhler.
Arbeitssucht - eine Krankheit, unter der viele Deutsche leiden, häufig ohne es zu wissen. Nach Schätzungen von Experte und Psychologe Stefan Poppelreuter hat die Zahl der Betroffenen von 2001 bis 2008 um 80 bis 100 Prozent zugenommen. „Wir schätzen, dass rund 400 000 Menschen in Deutschland arbeitssüchtig sind“, sagt Poppelreuter. Dazu komme eine hohe Zahl von potenziell gefährdeten Menschen. Bei den Angestellten sei das etwa jeder Siebte.
Professor Holger Heide hat an der Universität Bremen lange zum Thema Arbeitssucht geforscht. Er hält eine genaue Definition der Krankheit für schwierig. „Das ist nicht einfach nur eine Frage von viel Arbeit, sondern vor allem eine ausgeprägte Leistungs- und Erfolgsfixierung.“ Häufig schaffen die Betroffenen vor lauter Angst, den Anforderungen nicht gerecht zu werden, fast gar nichts mehr. Süchtig ist also nicht nur, wer jeden Tag mindestens zwölf Stunden lang arbeitet.
Im Gegensatz zu Menschen, die einfach nur viel Zeit mit ihrem Job verbringen, leiden Arbeitssüchtige meistens unter Kontrollverlust und Entzugserscheinungen - zwei Punkte, die auch bei Manfred Köhler sehr ausgeprägt waren. Außerdem konnte er Tätigkeiten nur schlecht an andere abgeben und Bitten schwer ablehnen. „Wenn ich jemandem mal gesagt habe: 'Du, ich habe jetzt keine Zeit', hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen“, erinnert sich Köhler. Auch einen freien Nachmittag oder eine längere Pause konnte er sich nicht ohne schlechtes Gewissen erlauben. Die Arbeit ließ ihn einfach nicht los.
Manfred Köhler fand den Weg aus der Sucht über eine siebenwöchige Kur in einer Spezialklinik und eine Selbsthilfegruppe der „Anonymen Arbeitssüchtigen“, die er in Hannover gemeinsam mit anderen Betroffenen vor sechs Jahren gründete. Seitdem treffen sich die Gruppenmitglieder einmal wöchentlich, tauschen sich aus und reden über ihre Probleme. Mittlerweile kann der heute 61-Jährige ganz locker über seine Sucht plaudern. „Das Meeting hilft mir schon sehr, da kann ich einfach hingehen und den Tag noch einmal reflektieren“, sagt er und rührt in seinem Milchkaffee.
Die Gründe für die Arbeitssucht sieht Experte Holger Heide in den meisten Fällen in der frühen Kindheit. „Oft lernen Kinder früh, fehlende Liebe durch Leistung auszugleichen“, erklärt der ehemalige Professor für Wirtschaftswissenschaften. „Das Kind bekommt dann Zuwendung, weil es lernt, sich so zu verhalten.“ Heide vermutet außerdem einen engen Zusammenhang vieler physischer und psychischer Erkrankungen mit der Arbeitssucht. „Das ist schwer quantifizierbar, aber es besteht ein enger Zusammenhang. Viele Volkskrankheiten sind eigentlich auf Arbeitssucht zurückzuführen.“
Die Anonymen Arbeitssüchtigen richten ihr Programm an dem der Anonymen Alkoholiker aus. Im Gegensatz zu ihnen haben sie jedoch einen entscheidenden Nachteil: Ganz ohne ihr Suchtmittel - die Arbeit - können sie nicht leben. Manfred Köhler hat seine Sucht jetzt im Griff. „Das Suchtpotenzial ist immer noch da“, sagt er. „Aber mittlerweile merke ich, wenn ich mich wieder zu sehr in die Arbeit hineinsteigere und kann dann einen Rückzieher machen.“ Sogar einen freien Nachmittag gönnt sich Köhler mittlerweile einmal in der Woche - und das ganz ohne schlechtes Gewissen.