Zweite Chance - Vom Studienabbrecher zum Azubi
Aachen (dpa/tmn) — Julian Seidel hat Abitur gemacht, Anglistik und Soziologie an der RWTH in Aachen studiert — und nach sechs Semestern im Magister-Studium abgebrochen. Damals, 2004, war er 23 Jahre alt und entschied sich, eine Lehre zum Schreiner zu beginnen.
Auch die Schreinerlehre hat er nicht zu Ende geführt, „aus vielerlei Gründen“, wie er sagt. „Danach wollte ich Geld verdienen und habe mich in einem Marktforschungsunternehmen bis zum Abteilungsleiter in der Datenerfassung hochgearbeitet.“ Dann hat die Firma aus der Schweiz ihr Büro in Deutschland geschlossen. Seidl stand ohne Job und Ausbildung da. „Aber ich wusste endlich, was ich machen wollte.“
Er lässt sich nun bei einem mittelständischen Unternehmen zum Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung ausbilden. Mit inzwischen 34 Jahren und der Unterstützung einer Initiative, die in Aachen Studienabbrecher mit Unternehmen zusammenbringt. Switch startete 2011 als Modellprojekt, erläutert Thomas Hissel. Er ist stellvertretender Fachbereichsleiter für Wirtschaftsförderung bei der Stadt Aachen. Das Projekt wurde mit regionalen Partnern entwickelt, 180 Firmen machen mit und bieten Ausbildungsplätze an. In Berlin gibt es mit „your turn“ ein ähnliches Projekt, das bei der IHK angesiedelt ist. Die Motivation ist dieselbe: „Wir müssen eine Strategie gegen den Fachkräftemangel entwickeln“, sagt Tanja Lakeit. Sie betreut die Studienabbrecher bei der Berliner Industrie- und Handelskammer.
Nach Angaben des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung brechen durchschnittlich 28 Prozent aller Bachelorstudenten das Studium ab. Die Städte und Kammern sehen in diesen jungen Leuten ein großes Potenzial, das sie nutzen wollen — unter anderem mit der Möglichkeit, eine verkürzte Ausbildung zu beginnen. Julian Seidel ist froh, dass er in das Programm gekommen ist. Nach der Schule sei er in eine Falle getappt: „Ich dachte, ich habe Abitur und dann muss ich auch studieren“, sagt er.
Tanja Lakeit hat fast täglich in der Beratung junge und nicht mehr ganz junge Leute sitzen, die sich mit diesem Gedanken tragen. „Viele haben einen defizitären Blick auf sich, meinen, sie schaffen nichts“, sagt sie. Doch das Gegenteil ist der Fall: „Man muss den Hebel umschalten: Die Kandidaten sind attraktiv, sie bringen eine Menge Erfahrungen und Fähigkeiten mit.“
Viele haben aber Probleme, dies im Lebenslauf gut zu verpacken. Darum rät Lakeit jedem Bewerber, zunächst überzeugende Unterlagen zu erstellen. Ein Lebenslauf, der auch die Credits der Hochschule beinhaltet, gehört zum Beispiel dazu.
Stefan Grob, Sprecher des Deutschen Studentenwerks, ermutigt junge Leute, den Schritt in die Ausbildung zu gehen, wenn sie merken, dass die Hochschule nicht der richtige Weg für sie ist. „Es geht nicht darum, die akademische gegen die berufliche Ausbildung zu stellen“, erklärt Grob. Tanja Lakeit sieht das so: „Wir sind keine Konkurrenz zur Hochschule, sondern bieten jungen Leuten einen Mehrwert.“
Erfolgreich sind die Studienabbrecher noch dazu: „Alle, die bislang mitgemacht haben, haben es geschafft“, erzählt Lakeit. Das Berliner Projekt arbeitet vor allem mit kleinen und mittleren Unternehmen zusammen, die für den eigenen Bedarf ausbilden. „Sie schätzen vor allem, dass sie Abiturienten als Azubis haben — die aber nicht an die Hochschulen wollen.“