Doktor mit 73 Jahren: „Das hält lebendig“

Mainz (dpa) - Graue „Campus-Streber“ oder kluge Kommilitonen? An vielen Unis sitzen Seniorstudenten in den ersten Reihen. Manche schreiben im hohen Alter noch wissenschaftliche Werke. Karl-Günter Zelle schaffte eine Dissertation - mit 73 Jahren.

Karl-Günter Zelle will sein „Gehirn nicht austrocknen“ lassen. Der 74-Jährige sitzt im Historischen Seminar der Uni Mainz, blickt durch eine schmal umrandete Brille, tippt auf seinem Laptop. Neben ihm liegen lederne Bücher. Bücher über Bücher. „Das ist ja immer die große Sorge der alten Menschen: 'Ich werde blöd und krieg' nichts mehr auf die Reihe'“, meint der Rentner. Zelle kam als Seniorstudent an die Hochschule. Nach seinem Beruf tauschte er Büro gegen Vorlesungssaal, studierte Geschichte und machte sogar einen Doktor. „Es ist eine Beschäftigung, die einen lebendig erhält, nicht?“

An der Johannes Gutenberg-Universität sind laut Hochschule derzeit 38 Menschen eingeschrieben, die älter als 60 Jahre sind. Viele besuchen Vorlesungen über Caravaggio, die Spätantike oder gotische Kathedralen. Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie sind ihr Ding. Professor Matthias Müller erlebt die grauen Köpfe als gut organisiert und integriert. „Sie haben durch ihre Lebenserfahrung voraus, dass sie den Überblick nicht so leicht verlieren“, meint der Kunsthistoriker. „Es gibt immer wieder Situationen, wo der Rat der Älteren gefragt ist, zum Beispiel in Prüfungssituationen.“

Von seinen Jahrzehnten als Unternehmensberater profitiert auch Zelle. „Ich geh' ganz anders ran als die jungen Leute“, erzählt der 74-Jährige. Er vermeide „heillose Zettelwirtschaften“ mit Hilfe von Technik. „Ich habe nicht das Gedächtnis, das ein Historiker haben sollte. Aber wenn Sie den Computer richtig organisieren, dann wird der zum Gedächtnis.“ Literaturverweise, Exzerpte oder Chronologien speichert der Rentner in einer riesigen Word-Tabelle. „So groß, dass sie mal meinen Computer gesprengt hat und ich einen neuen brauchte.“

Der ältere Student - ein Segen also? Mitnichten, hält Gregor Wedekind dagegen, ebenfalls Professor für Kunstgeschichte. „Weil Seniorstudenten dazu neigen, sich aufzuspielen, die jüngeren Studenten zu maßregeln“, sagt er. „Die schrecken auch nicht vor Dozenten zurück.“ Gerade Rentner, die früher hohe Wirtschaftsposten innehatten, passten sich nur schwer an. „Die älteren Herren können sich nur sehr schwer an einen Rollenwechsel gewöhnen. Ich habe mir einen sozial-pädagogischen Habitus aneignen müssen, um mit ihnen klar zu kommen.“

Bei einigen Studenten sind Senioren verschrien - als übermotivierte „Campus-Streber“, vorlaute Besserwisser, graue Störenfriede. „Besonders schlimm ist es, wenn bei Vorlesungen über das "Dritte Reich" die älteren Studenten ihre Erinnerungen ausgraben“, meint auch Rentner Zelle. „Das ist schrecklich geradezu, weil sie nicht wieder aufhören.“ Er glaubt: Seniorstudenten verlassen die Hochschule meist ohne Abschluss. Viele hörten gerne Vorlesungen, wollten aber keine Seminararbeiten schreiben. Durchgehalten hätten nur wenige. Offizielle Zahlen gibt es dazu nicht.

Zelle machte noch einen Doktor mit 73 Jahren. „Es geht mir nicht um den Titel, was soll ich damit?“, fragt er. Er wollte nur eins - ein Buch schreiben. Rund 500 Seiten zählt seine Dissertation heute. Für „Hitlers zweifelnde Elite: Goebbels, Göring, Himmler, Speer“ reiste er nach Berlin, Bonn, Freiburg, München und London. Monatelang wertete er Quellen neu aus, fügte Puzzleteile zusammen. Forscherkarriere habe er mit dem Thema nicht machen können. „Die Altersfreiheit liegt darin Dinge zu tun, die man jungen Leuten nicht anraten kann“, meint Zelle.

„Die jungen Studenten haben natürlich auch andere Aufgaben im Leben. Sie müssen einen Partner oder eine Partnerin finden“, sagt er. „Das Problem hab' ich ja nicht, ich bin glücklich verheiratet. Ich muss auch nicht auf Partys gehen.“ Dass seine Zeit an der Uni nicht ewig währt, weiß der 74-Jährige. „Entweder ich werde senil, noch mehr als ich jetzt bin. Oder: Meine Augen machen nicht mehr mit.“ Acht Augen-Operationen hat er hinter sich. „Ich bin ganz, ganz glücklich, dass die moderne Medizin mir hilft, das zu tun, was ich am liebsten mache: nämlich lesen.“