Gewalt gegen alte Menschen: Ein Pflege-Problem?

Berlin (dpa) - Sie sind wehrlos: Pflegebedürftige alte Menschen werden gegen ihren Willen ans Bett gefesselt, eingeschüchtert und geschlagen - von Pflegern oder den eigenen Angehörigen. Der Welttag gegen Misshandlung alter Menschen macht am 15. Juni darauf aufmerksam.

Der Tochter fehlen die Worte, wenn sie von dem Besuch bei ihrer im Pflegeheim lebenden Mutter erzählt. Mit Medikamenten ruhiggestellt und ans Bett gefesselt fand sie die Pflegebedürftige in ihrem Zimmer vor. Nicht ansprechbar sei die Mutter gewesen. Der Hausarzt hatte dies verfügt, ohne die Tochter als rechtliche Betreuerin der Mutter zu informieren. Schlimmer war aber die lapidare Antwort der Pfleger: Die Mutter sei unruhig gewesen und umhergeirrt.

Der Alterswissenschaftler und Psychiater Prof. Rolf D. Hirsch von der Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter - „Handeln statt Misshandeln“ - kennt solche Geschichten. Jede Woche berät er Menschen über eine Notrufnummer, unter der sich Opfer, Angehörige und Täter melden können. „Beruhigungsmittel und Fesselung gehören da zu den harmlosen Sachen“, sagt Hirsch.

Schwerer wiegen gezielte Misshandlungen durch Schläge oder verbale Einschüchterungen. Nach seinen Angaben sind bis zu 10 Prozent der Pflegebedürftigen daheim Gewalt ausgesetzt. In Heimen sind es bis zu 20 Prozent, bei den Demenzerkrankten ist es gar jeder Zweite.

Bestürzend sei vor allem, dass die Gewalt von denjenigen ausgehe, die sich um gebrechliche Menschen kümmern - Pfleger und Familie. Laut einer Studie von Prof. Thomas Görgen von der Polizeihochschule in Münster wenden mehr als 50 Prozent der Angehörigen binnen eines Jahres gegenüber Pflegebedürftigen Gewalt an. „Oft kommen in diesen extremen Belastungssituationen alte Konflikte wieder hoch“, sagt Görgen. Bei den Pflegekräften sind es fast 40 Prozent. Die Dunkelziffer dürfe jedoch jeweils höher liegen, vermutet Görgen.

Fragt man Hirsch nach der Ursache, seufzt er zunächst. „Ich will weder Pflegepersonal noch die Familien an den Pranger stellen, denn meist tun ihnen ihre Taten furchtbar leid.“ Das Problem liege tiefer: „In den Heimen gibt es zu schlicht zu wenig Personal.“

Auch Verbände beklagen den eklatanten Pflegemangel; Mitarbeiter ächzen über die enorme Arbeitsbelastung. Vor allem der Zeitaufwand für schwer Pflegebedürftige wie Demente sei problematisch. Da könne es schnell zu „Vorfällen“ kommen, sagt Hirsch.

Offiziell gibt es heute 2,3 Millionen Pflegebedürftige - davon 1,2 Millionen Demenzkranke. 750 000 von ihnen werden meist nur mit geringer Hilfe zu Hause gepflegt - und bringen Familienangehörige an ihre Belastungsgrenze.

Die Branche sucht verzweifelt nach Fachkräften. „Wenn 30 000 Pflegekräfte da wären, würde sie der Markt sofort aufnehmen“, sagt der Chef des Arbeitgeberverbandes Pflege, Thomas Greiner. Vor allem junge Leute interessierten sich nicht für den Berufszweig - wegen mangelnder Anreize.

Nach Schätzungen kommt noch mehr Arbeit auf die Branche zu: 2050 wird jeder Dritte in Deutschland 65 Jahre und älter sein - die Zahl der Pflegebedürftigen dürfte dann stark steigen. Gleichzeitig sollen laut Bundesstatistikamt schon 2025 etwa 152 000 Beschäftigte in der Pflege fehlen. Es ist ein Teufelskreis.

Der Präsident des Deutschen Pflegerates, Andreas Westerfellhaus, warnt eindringlich vor den Folgen. „Das Problem wird größer, wenn die Politik jetzt nichts tut. Dass es dann zu Gewaltfällen kommen kann, weil Personal und Familien total überfordert sind, ist zwar nicht zu entschuldigen, aber verständlich.“ Zugleich sei der bürokratische Aufwand enorm und halte von der eigentlichen Aufgabe ab - der Pflege.

Der Alltag der Pfleger sieht indes wegen dünner Dienstpläne oft dramatisch aus. Gesundheitsprobleme scheinen programmiert: Laut einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse sind Altenpfleger mit 18,9 Tagen deutlich häufiger krank als andere Berufsgruppen (im Schnitt Fehlzeiten von 12,3 Tagen). Gründe dafür sei etwa die körperliche und psychische Belastung.

Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) will zwar vor allem die bis zu vier Millionen Angehörigen bei der geplanten Pflegereform entlasten. Mitte Mai erteilte er jedoch allzu großen Erwartungen eine Absage: „Man kann ja leider nicht alleine alles durchsetzen.“ Westerfellhaus kritisiert, dass Ideen und Konzepte schon länger auf dem Tisch lägen. „Die Politik muss sich dazu durchringen, diese endlich umzusetzen - und die Bevölkerung dann auch auf Mehrkosten einzustimmen.“

Zwar sei es schwer, einen 20-Jährigen zu überzeugen, heute mehr für die Pflege auszugeben. Aber: „Wir werden alle älter.“ Ein erster Schritt sei vor allem die Versachlichung der Debatte, meint Prof. Hirsch. „Diskriminierung beginnt schon, wenn dauernd von 'Rentnerschwemme' und 'demografische Katastrophe' die Rede ist.“