HIV-Medizin: Junge Erwachsene als neue Sorgengruppe
Frankfurt/Main (dpa) - Als HIV-Infizierter braucht man eine Perspektive. Vor allem, wenn man in der Pubertät ist. Mediziner haben die Teenager, die meist seit ihrer Geburt HIV-positiv sind, als neue Sorgengruppe identifiziert.
In der Pubertät hat man eh schon einen Berg von Problemen. David (15) aus Gießen hat obendrein HIV. Der Teenager muss regelmäßig morgens und abends seine Tabletten nehmen. Er muss sich darüber Gedanken machen, wie er sein Geheimnis irgendwann einer möglichen Freundin erklärt. David, schon seit seiner Geburt HIV-infiziert, muss vor allem an eine Perspektive im Leben glauben. Für Christoph Königs, einen führenden deutschen Experten zu HIV/Aids bei Kindern, gehört David zur neuen „Hard-to-reach-population Adoleszente“: einer schwer zu betreuenden Gruppe von HIV-Patienten.
Weshalb ist dies ein neues Problem? „Weil die Kinder früher vor oder zum Erreichen des Erwachsenenalters gestorben sind“, sagt der Arzt von der Kinderabteilung der Gerinnungs- und Immundefektambulanz Uniklinik Frankfurt. Und wieso hat es diese Gruppe besonders schwer? „Die normale sexuelle Entwicklung ist ja schon mal völlig gestört. Ich lebe mit einem Geheimnis, andere denken, ich bin potenziell gefährlich, und auch ich hab' Angst, dass ich eine Gefahr für Dritte bin. Und sobald ich sage, wer ich wirklich bin, bin ich ausgestoßen.“
Königs (37) sagt, dass die Infektion von nahezu allen Kindern und Jugendlichen sogar vor den besten Freunden geheim gehalten wird. Wie bei David: „Ich hab' Angst, dass alles anders wäre als vorher.“ Seinen richtigen Namen will er lieber nicht in der Zeitung lesen. Er selbst erfuhr von seiner Krankheit ungefähr mit zwölf Jahren - weil sich der Stiefvater verplapperte. Laut Königs ist es typisch, dass Eltern ihre Kinder erst zum Beginn der Pubertät aufklären.
David, ambitionierter Basketballer im Verein, hat Glück, dass er nicht entstellt ist von den starken Medikamenten. Im Gegensatz zu den meisten HIV-positiven Teenagern, wie Königs sagt: „Die Frauen haben extrem große Brüste und so dünne Arme und Beine, dass man die Venen überall sieht. Unsere Mädels gehen nicht ins Schwimmbad. Die Jungs haben teilweise einen Stiernacken.“ Das hänge auch damit zusammen, dass die neuen Medikamente mit verringerten Nebenwirkungen für Kinder immer erst Jahre später auf den Markt kämen, sagt Königs, Vorstandsmitglied der Pädiatrischen Arbeitsgemeinschaft AIDS (PAAD).
In Deutschland leben rund 70 000 HIV-Infizierte, wie Experten zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember berichten. Kinder machen nur einen verschwindend geringen Anteil aus. Dem Robert Koch-Institut (RKI) wurden etwa 200 Betroffene unter 15 Jahren gemeldet. Diese kleine Gruppe fiele, so Königs, „leichter durchs Raster - sowohl medizinisch als auch psychosozial“. Die über 15-jährigen Adoleszenten bilden laut RKI und Weltgesundheitsorganisation WHO die Gruppe mit den meisten Neuinfektionen. Königs kritisiert, dass in Deutschland - anders als etwa in den USA - noch keine „Adoleszenten-Medizin“ etabliert sei.
Plakativ müsse man sich nur mal vorstellen, dass der 17-Jährige noch in der Kinder-Ambulanz „mit bunten Bärchen an der Wand“ sitze und der 19-Jährige dann im HIV-Center der Erwachsenen behandelt werde - zwischen den älteren, teilweise sichtbar kranken Menschen.
Nach Ansicht von Königs geht es vor allem um ein psychosoziales Problem. „Wenn wir die verlieren, im Sinne von 'Ich hab' keine Perspektive mehr', nehmen sie ihre Tabletten nicht - und dann scheitert die Therapie.“ David, mit vier mit der Mutter aus Kenia nach Deutschland gekommen, nimmt die fünf großen Pillen vorbildlich. Er geht tapfer mit seiner Krankheit um: „Es gehört einfach zu meinem Leben, es ist nicht so, dass ich zu Hause sitze und rumheule.“
So wie David haben sich laut Königs fast alle der HIV-positiven Kinder in Deutschland infiziert - nämlich bei der Mutter. In der Altersgruppe bis 18 gäbe es natürlich auch welche, die sich über ungeschützten Sex angesteckt haben. Zudem seien darunter einige wenige aus osteuropäischen Ländern, die über Blutprodukte infiziert wurden. Vereinzelt hätten sich Kinder durch Missbrauch angesteckt.
Dass die Neuinfektionen bei Kindern in Deutschland stetig sinken, hängt maßgeblich damit zusammen, dass Mutter-Kind-Übertragungen heute fast ausgeschlossen werden können. Mit der optimalen Therapie könne das Ansteckungsrisiko für das Kind auf unter ein Prozent gedrückt werden, erklärt Annette Haberl. Sie ist an der Frankfurter Uniklinik Expertin für Frauen mit HIV/Aids, insbesondere für Schwangere.
Irgendwann - so wünscht sich der Zehntklässler David - sollte normaler umgegangen werden mit dieser tabuisierten Krankheit.