Zu wenig Aufklärung über Anmache im Netz
Berlin (dpa) - Immer häufiger werden Kinder und Jugendliche in Chaträumen angemacht. Das Thema ist noch immer unterschätzt. Kinder und Jugendliche werden einfach nicht aufgeklärt. Und ihre Eltern genauso wenig.
Das Mädchen wollte keinen Kontakt zu diesem Chat- Partner. Er ließ aber nicht locker. Über die Seiten eines sozialen Netzwerkes spähte er die Freundesliste des Mädchens aus und drohte ihr, wenn sie nicht mit ihm Kontakt habe, dann würde er Lügen über sie in ihrem Freundeskreis verbreiten. Oder aber sie könne ihm ein Nacktfoto schicken, dann würde er es sein lassen. Das Mädchen schickte ihm eins. Danach folgten immer mehr Bilder. Irgendwann hielt es das Mädchen nicht mehr aus und vertraute sich ihrer Mutter an. Die ging dann zur Polizei. Dieses Beispiel ist nicht fiktiv, sondern hat sich tatsächlich so ereignet.
Dass im Internet Gefahren für Kinder und Jugendliche lauern, ist nicht neu, auch wenn die RTL-II-Sendung „Tatort Internet“ die Debatte jetzt noch einmal angeheizt hat. Nach Angaben des Verbands „Innocence in Danger“ erfährt jedes siebte Kind oder Jugendlicher im Internet mindestens einmal sexuelle Anmache. „Kinder und Jugendliche sind immer noch nicht genügend inhaltlich und technisch aufgeklärt“, sagt Kristine Kretschmer von Seitenstark, einem Verband, der sichere Kinderseiten und Chats fördert. „Vor allem sind die Eltern gefragt.“
Im Fachjargon heißt die Anmache von Minderjährigen durch Pädophile über Chaträume oder Messenger-Dienste Cybergrooming - ein verharmlosender Begriff, denn Grooming wird im Englischen für so etwas wie „Fellpflege“ im zoologischen Bereich verwendet.
Der Kriminologe Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut in Niedersachsen hat sich viel mit dem Phänomen von Attacken in Chaträumen auf Kinder beschäftigt. Er sagt: „Es gibt keine Möglichkeit die Kinder vollkommen zu schützen. Man kann nur aufklären.“ Das klingt zunächst banal. Pfeiffer erklärt weiter: „Es ist ähnlich wie mit der Sexualaufklärung. Sie ist selbstverständlich, und trotzdem nicht gang und gäbe.“
Ergänzt werden sollte die Aufklärung durch Vorsichtsmaßnahmen: Für das Chatten und Plaudern in den sozialen Netzwerken können entsprechende Voreinstellungen gesetzt werden, die einen gewissen Schutz bieten. „Als Internetnutzer sollte man darauf achten, dass man eine Kontrolle über seine Kontakte hat“, sagt Kristine Kretschmer vom Verband „Seitenstark“. Will jemand Neues also in die Freundesliste, muss man vorher zustimmen.
Dann rät Kretschmer: „Jeder muss seine Daten schützen: Also keine Namen, keine Adressen, keine Telefonnummern und keine Bilder.“ Es gebe aber immer häufiger kindersichere Seiten und auch Chats, in denen etwa Erwachsene in der Funktion von Moderatoren die Gespräche mitverfolgten. Wenn obszön gesprochen wird, schreiten sie ein. Ansonsten, meint Kretschmer, helfe nur „misstrauisch zu bleiben“. Sobald den Kindern etwas komisch erscheine, sollten sie sich sofort an ihre Eltern wenden.
Pfeiffer sieht Parallelen zu der aktuellen Debatte in Deutschland mit Schweden. Dort hätten schon vor Jahren drei Fälle großes Aufsehen erregt. Jedes Mal waren es Mädchen, die vergewaltigt und später getötet worden - von Männern, die sie kurz zuvor im Chat kennengelernt haben. Dann hätten in Schweden die Aufklärungskampagnen begonnen. „Bei uns steht das noch aus“, sagt Pfeiffer.
Wussten diese Kinder und Jugendlichen wirklich nicht, was sie tun? Pfeiffer sagt: „Nein.“ Und er vermutet: „Die Opfer von Missbrauch aber auch Cybermobbing sind primär Kinder aus der Unterschicht.“ Akademiker-Eltern könnten ihre Kinder besser schützen, weil sie informiert seien.
Dieser These widerspricht der Sprecher der Organisation für Kriminalitätsopfer „Weisser Ring“. „Die Opfer kommen aus allen sozialen Milieus“, sagt Veith Schliemann. Und schon die Zahlen sprächen für sich: „Jeder Schüler, der über zehn Jahre alt ist, ist heute in irgendeiner Community.“ Also in sozialen Netzwerken wie Schüler-VZ oder Facebook. „Das heißt, fast jeder Schüler ist heute über diese Netzwerke erreichbar und findbar.“
Der Großteil der Eltern wisse einfach nicht, was die Kinder tun, meint Schliemann. Zum einen fehle das technische Verständnis von Chatten oder sie hätten keine Zeit. Oft seien die Kinder alleine zu Hause.
Der Weg zur Aufklärung ist aber noch lang. Während über die Inkompetenz der Eltern gestritten wird, sind sich die Experten in einem Punkt einig. Aufklärung kann nicht nur Sache der Eltern sein. Auch die Schule müsse ihren Teil leisten, fordert Pfeiffer. Es gibt bereits Initiativen, wo externe Coaches Schüler in den Klassen über Computertechniken und das Internet aufklären. Das geht der Kultusministerin aus Baden-Württemberg nicht weit genug. Marion Schick (CDU) hat jüngst gefordert: Digitale Medien muss ein Schulfach werden - und zwar schon in der Grundschule.