Trauma-Experte: „Kollektive Trauer hilft“
Berlin (dpa) - ICE-Unglück in Eschede und Flugschau-Katastrophe in Ramstein: Die Namen von Orten, an denen der Psychologe Georg Pieper Angehörige betreute, haben sich ins Gedächtnis vieler Deutscher eingeprägt.
Auch nach dem Erdbeben in der Türkei 1999 und dem Tsunami in Südostasien 2004 half der Trauma-Experte Menschen, die seelisch aus dem Gleichgewicht waren. Die Deutsche Presse-Agentur sprach mit Pieper über Trauer am ersten Jahrestag des Germanwings-Unglücks.
Der Absturz der Germanwings-Maschine jährt sich am 24. März zum ersten Mal. Was bedeutet ein solcher Tag für die Angehörigen der Opfer?
Der erste Jahrestag ist ein ganz entscheidender Tag. Die ersten schlimmen Gefühle sind zwar zu diesem Zeitpunkt meist gemildert. Der Tag selbst belastet Angehörige dann aber sehr, denn sie durchleben das Ereignis noch einmal. Sie gucken auf die Uhr und denken sich: Genau vor einem Jahr passierte dies und das. Solche Tage sind eine direkte Konfrontation mit dem, was damals passiert ist. Wenn der Tag dann allerdings durchgestanden ist, merken viele: Jetzt kann ich langsam zur Ruhe kommen. Nach dem Gedenktag ist ihnen die Endgültigkeit des Abschieds ein ganzes Stück deutlicher geworden. Sie sind auf dem Weg zur Akzeptanz einen Schritt weitergekommen.
Wie können Angehörige den Tag denn am sinnvollsten verbringen?
Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, wenn Menschen den Tag aktiv begehen, sich mit anderen treffen, einen Gottesdienst besuchen. Passivität ist an solchen Tagen viel, viel schwerer zu ertragen. Es hilft auch, alleine bestimmte Rituale auszuüben, etwa einen Brief an den Verstorbenen zu schreiben und ihn mit einem Luftballon in den Himmel steigen zu lassen. Es gibt Angehörige, die versuchen, vor der Erinnerung zu fliehen: Sie verreisen, hören kein Radio, lesen keine Zeitung. Aber innerlich sind sie natürlich trotzdem damit beschäftigt.
Macht es für die Trauernden einen Unterschied, dass der Absturz wohl vorsätzlich herbeigeführt wurde?
Bei einem von Menschen verursachten Unglück ist es viel schwieriger, seinen Frieden damit zu finden. Unglücke wie dieser Absturz lösen die größte Verstörung aus, größer noch als bei Naturkatastrophen oder technischen Unfällen. Angehörige hadern, denken immer wieder: Warum hat dieser Mensch so ein Unglück über uns gebracht? Die Häufigkeit von posttraumatischen Belastungsstörungen ist deshalb zwei- bis dreimal so hoch wie bei anderen Unglücken. Sein Kind zu verlieren, ist außerdem der schwerste Verlust, er stürzt Menschen in tiefe Verzweiflung.
Kann es bei der Trauerarbeit helfen, wenn dieser Verlust große Gruppen betrifft, wie im Fall der Halterner Schüler und ihrer Angehörigen?
Man kann sagen, dass es zunächst das Leid potenziert. Wo man jeden Tag auch mit dem Leid der anderen konfrontiert ist, lähmt es das gesellschaftliche Zusammensein. Es liegt über allem wie eine bleierne Schwere. Die Gesellschaft funktioniert nicht mehr. Andererseits gibt kollektive Trauer die Chance, sich zu verstehen und gegenseitig zu stützen. Es kommt darauf an, wie die Gemeinde damit umgeht. Ich habe nach dem Grubenunglück in Borken mit mehr als 50 Toten viele Angehörige betreut. Sie haben gemeinsam Veranstaltungen organisiert, Gottesdienste an den Jahrestagen gefeiert, eine Gedenkstätte gebaut. Diese Solidarität, sich gegenseitig zu helfen, war ein Positivbeispiel für aktive Erinnerung. Sie hat tatsächlich neue Kräfte geschaffen.