Kind mit chronischen Schmerzen: Ablenkung hilft

Düsseldorf (dpa/tmn) - Chronische Schmerzen sind kein Altersleiden. Schon Kinder und Jugendliche können daran leiden. Das Problem ist manchmal so groß, dass es den Alltag der jungen Patienten bestimmt.

Wird es früh genug erkannt, sind die Chancen einer Therapie gut.

Zuerst war es nur ein Ziehen im Rücken. Vielleicht vom schweren Heben, vielleicht durch eine falsche Bewegung. Doch der Schmerz blieb, und die Zeiträume, in denen er nicht da war, wurden immer kleiner. „Der Gang meiner Tochter änderte sich, ihre Bewegungen waren stark eingeschränkt, und mit der Zeit wurde es immer schlimmer“, erinnert sich Karin S.* aus Düsseldorf. „Irgendwann war sie verzweifelt und hat unheimlich viel geweint.“

Damals war das Mädchen 15 Jahre alt. Drei Monate lang ging sie nicht zur Schule, weil sie sich kaum noch bewegen konnte. Die Familie versuchte alles: Besuche bei Orthopäden, Physiotherapie und Entspannungstechniken. Nichts half. Und schlimmer noch: Niemand konnte erklären, wo genau die Schmerzen herkamen.

Eigentlich sind Schmerzen etwas Alltägliches und haben durchaus Sinn. Sie sind Signale des Körpers, der mitteilt, dass etwas nicht stimmt. „Ein chronischer Schmerz aber ist ein Schmerz, der diese Warnfunktion verloren hat, also einfach da ist“, sagt Prof. Boris Zernikow vom Deutschen Kinderschmerzzentrum in Datteln.

Laut einer Schätzung des Zentrums leiden 350 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland an chronischen Schmerzen. Alle Patienten, die ins Kinderschmerzzentrum kommen, haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Im Schnitt sind sie von mindestens drei Ärzten ergebnislos behandelt worden und leiden seit mehr als zwei Jahren unter ihren Schmerzen.

Keinesfalls sollte dieses Phänomen mit Hypochondrie verwechselt werden. „Die Kinder erleben die Schmerzen tatsächlich“, versichert Ria Matwich von der verhaltenstherapeutischen Ambulanz der Universität Gießen. „Sie haben einfach andere Auslöser als eine akute Erkrankung.“ Aber gerade wenn der Auslöser unklar bleibe, kann es passieren, dass die Schmerzen noch stärker werden. Es entsteht das Gefühl, ihnen ausgeliefert zu sein.

Weil die Ursachen chronischer Schmerzen so vielfältig sind, sind es auch die therapeutischen Verfahren. Medikamente, Physiotherapie und die Schulung der Psyche seien wichtig. Als erstes empfiehlt Zernikow den Kindern, ein Tagebuch führen, in das sie ihre Schmerzerlebnisse eintragen: Wann sie welchen Schmerz fühlen und wie stark er ist. Danach lernen sie, wie sie die Schmerzen bekämpfen können. Oft gehe das durch Ablenkung. „Wird der Schmerz dadurch ausgelöst, dass sich das Kind an ihn erinnert, muss das Gehirn mit etwas anderem beschäftigt werden“, erläutert Zernikow. Das könne das Aufzählen von Automarken mit gleichem Anfangsbuchstaben sein oder die Flucht an einen „Wohlfühl-Ort“ in der Fantasie.

Ein weiterer wichtiger Baustein ist das soziale Umfeld. „Auch die Eltern müssen im Umgang mit den Schmerzen des Kindes geschult werden“, erklärt Matwich. Am wichtigsten sei, auf chronische Schmerzattacken nicht so zu reagieren wie bei akut auftretenden Schmerzen. Stattdessen müsse das Kind darin unterstützt werden, sich vom Schmerz nicht beeinträchtigen zu lassen. „Für viele klingt das im ersten Moment verrückt“, gibt Zernikow zu. „Aber Schonung ist bei chronischen Schmerzen die falsche Reaktion.“

„Viele Patienten profitieren schnell. Erste Entlastungen treten bei ambulanter Behandlung bereits nach ein bis zwei Monaten auf“, ergänzt Matwich. Die besten Chancen hätten Kinder, wenn das Problem frühzeitig erkannt wird.

Die Tochter von Karin S. unterzog sich im Kinderschmerzzentrum Datteln einer dreiwöchigen stationären Therapie. „Heute ist sie wieder der Boss und nicht der Schmerz“, berichtet die Mutter. Die Familie rede überhaupt nicht mehr über die Schmerzen und habe sie komplett aus dem Alltag verbannt. „Und so soll es ja auch sein.“

Literatur:

Michael Dobe, Boris Zernikow: Rote Karte für den Schmerz. Wie Kinder und ihre Eltern aus dem Teufelskreis chronischer Schmerzen ausbrechen. Carl Auer. 188 S. 16,95 Euro, ISBN 978-3-89670-688-1