Polnische Masuren: Historische Schauplätze in himmlischer Natur

Olsztyn (dpa/tmn) - Mit tiefen Wäldern und zahllosen Seen gehört Masuren zu den schönsten Landschaften Europas - und ist ein Tummelplatz für Aktivurlauber. Aber auch Kultur- und Geschichtsinteressierte kommen im Nordosten Polens auf ihre Kosten.

Foto: dpa

Für europäische Verhältnisse scheint alles in diesem Land eine Spur zu groß geraten zu sein. Als hätte es sich selbst nach Jahrhunderten der Kultivierung nie ganz aus dem Schatten seines archaischen Ursprungs gelöst. Endlos und undurchdringlich sind seine Wälder. Tausende Seen, verbunden durch Flüsschen und Kanäle, gesprenkelt mit Tupfen grüner Inseln bilden ein verwirrendes Wasserlabyrinth. Unendlich weit wölbt sich das Firmament über die sanft hügelige Landschaft, in der man sich seltsam verloren fühlt. Nur selten bietet am Horizont eine Kirchturmspitze Orientierung.

Foto: dpa

In Masuren hat sich der Mensch nach der Natur zu richten, nicht umgekehrt. Reiseleiter Andrzej Kamelo bittet seine Gäste, diese Tatsache zu respektieren. Früher hat er beim Wasserwirtschaftsamt gearbeitet. „Der Bürojob hat mich aber schnell gelangweilt. Ich brauche Menschen um mich.“ Zweimal im Jahr radelt der junge Pole aus Olsztyn (Allenstein) nun mit deutschen Touristen durch die Wälder rund um Masurens Seen. Reparaturset und Mobiltelefon sind für ihn dabei unverzichtbarer Teil der Ausrüstung, damit im Falle einer Panne in dem dünn besiedelten Landstrich auch schnell Hilfe vor Ort ist.

Foto: dpa

Urlaub in Masuren heißt die Langsamkeit entdecken. Nur wer hier mit dem Fahrrad, im Kajak oder im Kanu unterwegs ist, dem wird sich die einzigartige, herb-melancholische Schönheit dieser Region ganz erschließen. Es ist eine Landschaft, die ohne spektakuläre Schauwerte auskommt. Jede Strecke eröffnet dafür neue, überraschend abwechslungsreiche Perspektiven.

Foto: dpa

Wie mit dem Lineal gezogene, sandige Wege führen durch die Puszcza Piska, die einstige Johannisburger Heide, mit mehr als 1000 Quadratkilometern Polens größtes Waldgebiet. Kaum hat man den kühlen Forst verlassen, bringt eine Fähre Radler und Spaziergänger über den schmalen Jezioro Beldany an die lichten, schilfgesäumten Ufer von Popielno, wo kleine Badebuchten mit feinem Sand den Blick auf vorbeiziehende weiße Segelboote freigeben. Mediterranes Flair im nördlichen Polen. Gut vorstellbar, dass der Regisseur Jerzy Kawalerowicz hier die Kameras für sein 1966 veröffentlichtes Historienepos „Pharao“ aufstellte, als eine eigens in Danzig gebaute Barke über die Masurischen Seen glitt, die im Film den Nil darstellen.

Foto: dpa

Schmale, oft unbefestigte Wege führen durch Ortschaften, an denen man im Auto glatt vorbeigefahren wäre. Nach Wojnowo zum Beispiel, in dem sich vor 200 Jahren die Altgläubigen niederließen, eine russisch-orthodoxe Sekte, die sich den Reformen des Moskauer Patriarchen Nikon gegen Mitte des 17. Jahrhunderts strikt widersetzte. Ein Stück Russland mitten in Masuren. Am auffälligsten ist die hölzerne Kirche mit ihren blau umrahmten, fast orientalisch anmutenden Fenstern und den Zwiebeltürmen. Auf einem kleinen Friedhof sind die verstorbenen Mitglieder der Glaubensgemeinschaft beigesetzt.

Foto: dpa

Das Kontrastprogramm zum beschaulichen Landleben gibt es sechs Kilometer östlich von Ketrzyn, dem früheren Rastenburg. Mit dem „Dritten Reich“ lässt sich noch immer gut verdienen. Der Parkplatz vor dem ehemaligen Führerhauptquartier Wolfsschanze steht voller Reisebusse. Wegen der riesigen Trümmerberge gesprengten Stahlbetons würde wohl niemand freiwillig auf den Trampelpfaden durch das mückenverseuchte Waldstück laufen. Immerhin vermitteln allein schon die Ausmaße der zerstörten Bunkeranlagen einen beklemmenden Eindruck vom Größenwahn der Nazis. Nachdenklich stehen Besucher aus ganz Europa vor der gusseisernen, in Form eines aufgeschlagenen Buches gestalteten Gedenktafel, die in deutscher und polnischer Sprache an das gescheiterte Attentat erinnert, das Graf von Stauffenberg an dieser Stelle am 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler verübte.

Foto: dpa

Eine ganz andere Geschichte, nämlich die des friedlichen Zusammenlebens, erzählt die evangelische Kirche von Gizycko (Lötzen), die auch aus kunsthistorischer Sicht von Interesse ist. In den Jahren 1826/27 im schlichten, neoklassizistischen Stil nach einem Musterentwurf des berühmten Berliner Architekten Karl Friedrich Schinkel errichtet, fand bereits damals zu ihrer Einweihung ein besonderer Gottesdienst statt - erst in deutscher, dann in polnischer Sprache. Die Kirche ist eines der wenigen Gotteshäuser, das nach 1945 evangelisch blieb. Für Krystian Borkowski, seit 2006 Pastor der kleinen Gemeinde, ist sie ein Symbol für die Versöhnung zwischen Polen und Deutschen.

Foto: dpa

Noch einmal ein Blick in den Himmel von Masuren. Über dem Jezioro Beldany geht die Sonne unter. Wieder einer dieser magischen Momente, den man schweigend genießt, weil man sich einfach nicht sattsehen kann am Spiel der Farben. Die Abendröte taucht Wasser, Wald und Uferstreifen in ein goldenes Licht, ein leichter Wind kräuselt die glatte Oberfläche des Sees. Tiefer Frieden liegt über dem Land. „Vielleicht ist dies der höchste Grad der Liebe: zu lieben ohne zu besitzen“, schrieb Marion Gräfin Dönhoff 1988 in ihren Erinnerungen „Kindheit in Ostpreußen“. Für die nachwachsende Generation, die keinen Bezug mehr zu diesem Land hat, ist die Begegnung mit Masuren ohne den Ballast der Geschichte um ein Vielfaches leichter und für die meisten einfach nur eine Liebe auf den ersten Blick.