Digitale Verunsicherung Von der eigenen Stimme, die man im Internet abgibt

Demokratie ist super. Da kann jeder mitmachen. Genau wie im Internet. Wer als Netcitizen seine Meinung kundtun möchte, tummelt sich einfach in Kampagnen-Netzwerken. Da gibt es Petitionen und Initiativen und jede Menge Entrüstung frei Haus.

Foto: Sergej Lepke

Politik in mundgerechten Häppchen, perfekt für den Netzbürger, der nicht erst raus will, um sich reinzumischen. Bei Avaaz, Change.org, Campact und openPetition findet das Zoon Politikon fürs Engagement naturidentische Käfighaltung.

Einschalten und abstimmen: Auf Meinungsplattformen haben Couch Potatoes die Qual der Wahl. Da kann die Surfkartoffel per Mausklick das Bienensterben stoppen und Palästina anerkennen, Mütter beim Stillen schützen und das Klima vor Ver.di retten, Legehennen befreien und akademische Arbeitsplätze sichern und immer wieder Flüchtlingen helfen. Full Speed frisst sich der Fastfoodbürger durch die demokratische Speisekarte. Einfach den richtigen Links gefolgt und eine E-Mail angegeben. Kaum wird man genannt, verdrängt einen schon der nächste. So schnell ist Zivilcourage nur im Internet. Der Wert der Stimmen reduziert sich auf ein „Ja“. Ein klares Votum. Da kann sich jeder frei entscheiden, solange er der gerechten Sache dient.

Das Sammeln der Stimmen im Chor der Wohlgesinnten ist effektiv. Und lukrativ für die Betreiber der Petitionsplattformen: Wer fürs bürgerliche Engagement seine Mail-Adresse hinterlässt, den beglücken in rascher Folge neue Aufrufe, selbstverständlich zum Weiterleiten. Werben für die gute Sache. Kettenbriefe mit Heiligenschein. Stimmenfang für Lautstärke. Davon zehrt das Mitmachkabinett: Masse verleiht Gewicht — jedoch nicht dem Anliegen, sondern dem Netzwerk. Bekanntheit ist die Münze zum Erfolg. Die Anbieter der organisierten Volksbefragung brauchen Spenden. Sie wachsen mit dem Bekanntheitsgrad: Die freie Meinung ist wertvoll und jede Stimme Gold wert. Je mehr Teilnehmer, desto mehr Einfluss, umso mehr Spender. Die eigene Meinung ist ein wertvolles Gut. Da wird die Abstimmung zur reinen Formsache. Mag das Anliegen auch ideell sein, der Gewinn ist real beim Geschäft mit dem Stimmrecht.