ESC-Finale: Nur Ohrwürmer haben in diesem Jahr eine echte Siegchance

Google sieht in seiner Prognose die Iren als Gewinner des ESC, in den Wettbüros hat Frankreich die Nase vorn. Unser Autor hat eigene Favoriten — für ihn kommt der Sieger dieses Mal aus Aserbaidschan.

Düsseldorf. Die Folklore-Zeiten beim ESC sind vorbei. Nur vereinzelt hört man noch Lokalkolorit, tief vergraben unter Euro-Dance-Trash oder geschniegeltem Formatradio-Pop. Wohl dem, der sich mit seinem Beitrag von diesem austauschbaren Harmonieneinerlei abheben kann.

Lenas „Taken By A Stranger“ ist daher mit Sicherheit ein Anwärter für die Top fünf. Das geschickte Synthesizer-Arrangement macht aus einem Hauch von Melodie eine astreine Popnummer mit hoher Anziehungskraft. Einzig Lena selbst will nicht ganz zu dieser geheimnisvollen Atmosphäre passen. Sie wirkt zu unschuldig für das Verruchte, das der Song ausstrahlen will.

Ebenfalls stilistisch allein auf weiter Flur bewegt sich der 21-jährige Operntenor Amaury Vassili, der für Frankreich einen pathetisch geschmetterten Bolero ins Feld führt. Bei sämtlichen Buchmachern liegt dieser überfrachtete Schmachtfetzen vorne. Verständlich ist das nicht: Die Melodramatik wirkt aufgesetzt, die Melodie tapert irrlichternd umher. Unsere Prognose: Mittelfeld.

Bessere Chancen auf den Sieg dürften Songs haben, die sich beim ersten Hören im Kopf festsetzen. Dazu gehört die gefühlvoll ausbalancierte Ballade „Running Scared“ des aserbaidschanischen Pop-Duos Ell/Nikki — der heißeste Kandidat für den Sieg.

Ebenfalls gut ins Ohr gehen die beiden Euro-Dance-Revival-Nummern aus Russland und Schweden, die sich allerdings nur dadurch unterscheiden, dass die adretten Herren, die sie singen, blond beziehungsweise brünett sind. Den internen Streit der Pin-Up-Boys dürfte letztlich der dunkelhaarige Skandinaver Eric Saade für sich entscheiden. Sein Song „Popular“ ist etwas eingängier.

Deutlich angegrauter meldet sich für Großbritannien die zu Beginn der Nuller-Jahre extrem erfolgreiche Boyband „Blue“ zurück. Ihr rhythmisches „I Can“ ist ein sicherer Radiohit, den man sich allerdings erst schönhören muss. Die einstige Popularität des Quartetts könnte den Briten nach langer Durststrecke einen Platz in höheren Regionen bescheren.

Ebenfalls in die Kategorie Teenieschwarm fällt Finnlands Axel Ehnström, Künstlername: Paradise Oskar. Nicht mehr ganz so peinlich wirkt das Pseudonym, wenn man weiß, dass es einem Astrid-Lindgren-Roman entnommen ist. Die Eine-Welt-Laden-Romantik, die „Da Da Dam“ verströmt, entschuldigt das allerdings nicht.

Für viele ist der säuselige Pfadfindersong ein Topanwärter auf den Thron, nicht zuletzt, weil auch Deutschland mit naivem Friedensgeplänkel schon einmal den Sieg davongetragen hat. Da Paradise Oskar die undankbare Startnummer eins hat, ist ein solider Platz im oberen Drittel wahrscheinlicher.

Ausgerechnet Irland, die erfolgreichste und irgendwie auch konservativste Grand-Prix-Nation, überrascht mit dem knalligen Synthie-Mitgröler „Lipstick“. Das Outfit des Zwilligsduos Jedward, das aussieht, als hätten zwei Albinos in die Steckdose gegriffen, dürfte für einen hohen Aufmerksamkeitsgrad sorgen.

Bleiben die beiden Geheimtipps: die perfekt produzierte Krawall-Pop-Nummer „Rockefeller Street“ der Estin Getter Jaani. Zudem hat die Dänen-Combo „A Friend in London“ Siegchancen. Optisch überzeugt die Truppe mit wilder Brustbehaarung — musikalisch ist „New Tomorrow“ eher was für frisch verliebte Rockerbräute.