Überblick Klage mit neuer Dimension: Darum geht es im Missbrauchsprozess gegen das Bistum Hildesheim

DÜSSELDORF/HILDESHEIM · Jens Windel verklagt das Bistum Hildesheim auf 400 000 Euro wegen sexuellen Missbrauchs. Das ist eine neue Dimension. Ein Überblick.

Der „Hängemattenbischof“, den der Düsseldorfer Künstler Jacques Tilly kreiert hat, hier in Freiburg vor dem Münster.

Foto: dpa/Silas Stein

Es ist eine Schmerzensgeldklage in einem Missbrauchsprozess, die, sollte sie erfolgreich sein, jedenfalls finanziell eine neue Dimension bedeuten würde. Das Landgericht Köln hatte im Jahr 2023 das Erzbistum Köln verurteilt, dem Kläger und Opfer sexuellen Missbrauchs Georg Menne 300 000 Euro Schmerzensgeld zu bezahlen. In einem vergleichbaren Fall verklagt nun Jens Windel das Bistum Hildesheim auf 400 000 Euro. Der Prozessbeginn war am gestrigen Freitag.

Die Klage des heute 50-jährigen Jens Windel stützt sich darauf, dass er in den Jahren 1984 und 1985, zwischen seinem neunten und elften Lebensjahr, immer wieder, insgesamt rund 90 Mal von einem mittlerweile verstorbenen Pfarrer in der zum Bistum Hildesheim gehörenden Gemeinde Sorsum vergewaltigt worden sein soll.

Der Kirchenmann, der zugleich auch Religionslehrer war, hatte den Jungen zuvor zum Messdienerdienst geworben. Der Humanistische Pressedienst hat ausführlich über den Fall und auch die rechtlichen Streitfragen berichtet.

Seit Mittwoch demonstriert auch die Aktionsgruppe „11.Gebot“ mit dem „Hängemattenbischof“ in Hildesheim, um auf die große Relevanz des Zivilprozesses gegen das Bistum aufmerksam zu machen. Organisator David Farago sagt, im Fall von Jens Windel werde sich zeigen, „ob die milliardenschwere katholische Kirche in Deutschland ihr Organisationsverschulden eingesteht oder ob sie weiterhin versucht, sich mit juristischen Schleichwegen aus der Affäre zu ziehen“. Im Landgericht Hildesheim treffen zwei Parteien aufeinander, deren rechtliche Argumentationslinien sehr weit auseinanderliegen.

Ein Überblick, wie von Seiten des Anwalts von Jens Windel und der Rechtsvertretung des Bistums argumentiert wird: Bis vor einigen Monaten hatte Jens Windel noch gehofft, das Bistum Hildesheim würde sich auf Vergleichsgespräche einlassen. Um ihm zu ersparen, das vor Jahrzehnten erlittene Leid noch einmal im Rahmen eines Prozesses schildern zu müssen. Doch diese Hoffnung trog. Der Rechtsvertreter des Bistums gibt sich in dessen Namen unnachgiebig. Der Anspruch von Jens Windel wird bestritten. Und anders als das Erzbistum Köln im Fall Menne besteht das Bistum Hildesheim auch darauf, dass jeglicher mögliche Anspruch verjährt sei.

Was der Kläger und das beklagte Bistum mit Blick auf den Schmerzensgeldanspruch sagen

Obwohl dem Kläger Jens Windel in mehreren Schritten bislang rund 50 000 Euro Entschädigungsleistungen gezahlt wurden und so die Berechtigung des Anspruchs implizit eingestanden wurde, argumentiert der Anwalt des beklagten Bistums nun: Sämtliche bisher geleisteten Zahlungen, insbesondere basierend auf den Regelungen der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA), seien freiwillige Leistungen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht gewesen. Wenn der Kläger nun gerichtliche Schmerzensgeldansprüche geltend mache, müsse er dies substantiiert und unter Beweisantritt belegen.

Zwar bestreite auch das Bistum nicht, dass der verstorbene Pfarrer Missbrauchstäter gewesen sei. Man könne aber nicht die Behauptungen des Klägers über die von ihm behaupteten Missbrauchstaten prüfen. Es handle sich um „eine subjektive Schilderung“ des Klägers. Auch bestreite man, dass die ärztlichen Diagnosen und gesundheitlichen Einschränkungen, die der Kläger vorbringe, ihre Ursache in dem Missbrauch gehabt hätten. Mit anderen Worten: Das soll Jens Windel erst einmal beweisen. Und selbst wenn ihm dies gelinge, sei das Bistum nicht in der Verantwortung. Der auf einen Amtshaftungsanspruch gegen die Kirche gestützte Anspruch setze voraus, dass der Missbrauchstäter „in Ausübung eines öffentlichen Amtes hoheitlich“ gehandelt habe. Das sei aber mit Blick auf den Priester nicht der Fall gewesen.

Christian Roßmüller, Anwalt von Jens Windel, findet es befremdlich, dass das Bistum nun nichts mehr von einer Verantwortlichkeit wissen will. Über Jahre hätten die Kirchenvertreter den Kläger als Betroffenen behandelt und bezeichnet, argumentiert er. Und auch nach außen hin anerkannt, dass Windel das von ihm vorgetragene Leid tatsächlich erlebt hat.

Auch die Behauptung, die Missbrauchstaten hätten nichts mit dem Amt des Pfarrers zu tun und seien deshalb nicht dem Verantwortungsbereich der Kirche zuzurechnen, seien substanzlos. Der damals neunjährige Jens Windel habe als Messdiener unter dem Einfluss des Pfarrers gestanden.

Die Taten seien im Pfarrhaus oder auch in der Sakristei begangen worden. Der Priester habe seine besondere Rolle in den Mittelpunkt gestellt. Die „daraus fließende Liebe zu den Menschen“ sei sein Argument gegenüber dem Jungen gewesen, diesen anzufassen und ihn sexuell zu malträtieren. Gerade das Priesteramt und die religiöse Autorität habe den Zugriff auf den Jungen ermöglicht. Das Bistum habe trotz der bekannten pädophilen Neigungen des Priesters keine Maßnahmen getroffen, solche Taten zu verhindern.

Was der Kläger und das beklagte Bistum zu der Verjährungsfrage sagen

Das Bistum Hildesheim beruft sich darauf, dass ein Schmerzensgeldanspruch von Jens Windel jedenfalls verjährt sei. Spätestens 30 Jahre nach den Missbrauchstaten. Also im Jahr 2015. Wichtig ist aus rechtlicher Sicht dies: Allein ein Zeitablauf ändert nichts am Bestehen eines möglichen Rechtsanspruchs. Wenn aber Verjährungsfristen abgelaufen sind, dann hat der in Anspruch Genommene das Recht, sich eben darauf zu berufen. Juristen sprechen deshalb von der „Einrede der Verjährung“, die im Zivilprozess erhoben werden muss.

Nun wird von Juristen diskutiert, ob es nicht Fälle geben kann, in denen es ein Verstoß gegen die „Grundsätze von Treu und Glauben“ sein kann, sich auf die „Einrede der Verjährung“ zu berufen. Weil die kindlichen und jugendlichen Missbrauchsopfer kirchlicher Amtsträger in einem Nähe- und Vertrauensverhältnis zu den Tätern standen und deshalb eine Berufung der Kirche auf Verjährung rechtsmissbräuchlich wäre. Eben so argumentiert auch Christian Roßmüller, der Anwalt von Jens Windel. Und: Man habe sich nicht vorstellen können, dass nach den vielen wohlwollenden Schreiben und Reden durch Bistumsvertreter in Richtung Jens Windel sowie Danksagungen für seine Aufklärungsarbeiten „derart Ungehöriges und Unrechtes passiert“. Der Kläger sei auf der einen Seite zu Aufarbeitungs- und Präventionszwecken benutzt worden. Gemeint ist die Arbeit Windels für Opferinitiativen. Aber dann, wenn es ums Recht geht und um die ihm zustehende Entschädigung nach bürgerlichem Recht, werde versucht, ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Das Bistum und seine Rechtsvertreter wollen das nicht gelten lassen. Die Verjährungsregeln hätten die Funktion, einen „Nicht-Schuldner“ zu schützen, dessen Beweisposition sich im Laufe der Zeit verschlechtern könne. Verjährungsregeln dienten der Rechtssicherheit, und diese wiederum habe Verfassungsrang in einem Rechtsstaat. Auch ein Nähe- und Abhängigkeitsverhältnis des Klägers gegen den Beklagten könne die Verjährungsregeln nicht aushebeln.

Das Zwischenfazit
vor dem Prozessbeginn

Zusammengefasst sieht die rechtliche Strategie des Bistums Hildesheim so aus: Herr Windel, beweisen Sie erst einmal, dass Sie damals von dem Priester missbraucht wurden. Und beweisen Sie auch, dass die gesundheitlichen Folgen eben darauf überhaupt beruhen. Und selbst wenn Ihnen das gelingt, sind nicht wir als Kirche dafür verantwortlich. Und selbst wenn wir das doch sein sollten – dann ziehen wir halt unsere vielleicht letzte Trumpfkarte: Verjährung!

Ein Satz voll von bitterem Sarkasmus kommentiert diese unnachgiebige Position der Kirche. Es ist der Satz unter dem vom Düsseldorfer Künstler Jacques Tilly geschaffenen „Hängemattenbischof“. Eine Großplastik, die – aktuell beim Protest in Hildesheim – einen selig und scheinbar unschuldig in seiner Hängematte schlummernden Kirchenmann zeigt und in bitterer Ironie anklagt: „14 Jahre schonungslose Aufarbeitung der Missbrauchsfälle!“ – Die aufgemalte Zahl auf der Skulptur wurde im Lauf der Jahre schon mehrfach nach oben korrigiert.

Alessandro Wernli, Geschäftsführer von Bäumer Betriebshygiene
Toilettenpapier aus Italien
Interview „Seit der zweiten Pandemiewelle erleben wir eine deutlich erhöhte Nachfrage“ Toilettenpapier aus Italien