„Sie werden die Bilder nicht los“

Opferanwalt Julius Reiter spricht über die Folgen der Katastrophe bei der Loveparade.

Herr Reiter, ein Jahr ist seit der Loveparade-Katastrophe vergangen, bei der 21 Menschen starben. Wie geht es den Angehörigen?

Reiter: Vielen von ihnen geht es immer noch sehr schlecht. Sie beobachten nun schon seit Monaten, wie alle Beteiligten sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben. Und sie werden die schrecklichen Bilder in ihrem Kopf nicht los: das Gedränge, die Panik, die Toten.

Wurden die Opfer und Hinterbliebenen im vergangenen Jahr ausreichend betreut?

Reiter: Die Notfallseelsorge und der Verein der Opfer Massenpanik Selbsthilfe leisten gute Arbeit. Doch gibt es Hinterbliebene und Geschädigte, die im Ausland leben — etwa in China, Spanien oder Italien. Für sie gibt es keine organisierten Hilfen. Sie stehen allein.

Reiter: Dass das Ermittlungsverfahren abgeschlossen wird, dass die Verantwortlichen vor Gericht kommen und dass man ihnen Beistand leistet und sie angemessen entschädigt.

Wer trägt nach Ihrer Überzeugung die Verantwortung?

Reiter: Alle Beteiligten — also Veranstalter, Stadt und Land — tragen Verantwortung.Es gibt keine Alleinursache und keinen Alleinverursacher der Katastrophe. Es gibt vielmehr ein Versagen aller drei Beteiligten, die gemeinsam Verantwortung und Schuld tragen: der Veranstalter, der Druck auf die Verwaltung ausgeübt und sich nicht an die Sicherheitsauflagen gehalten hat. Die Stadt, die nicht hätte genehmigen dürfen und nicht kontrolliert hat, und die Polizei, die grobe Fehler bei ihrem Einsatz gemacht hat.

Ist die Entschädigung geregelt?

Reiter: Nein, nur zum Teil. Das Land hat einen Fonds über 1,5 Millionen Euro eingerichtet für bestimmte Fall-Konstellationen. Das Geld ist unbürokratisch geflossen: 20 000 Euro für die Hinterbliebenen im Todesfall und für Verletzte 500 Euro pro Tag stationärer Behandlung. Die Versicherungen des Veranstalters und der Stadt sind unserer Forderung gefolgt und ebenfalls in die Schadenregulierung eingetreten. Wir können aber noch nicht beurteilen, ob durch die Axa-Versicherung angemessen entschädigt wird.

Inwiefern?

Reiter: Für eine Bestandsaufnahme ist es noch zu früh. Ungeklärt ist, wie mit Spätfolgen umgegangen wird und welche Haftungsverteilung sich zwischen den Verantwortlichen ergibt. Wir haben deshalb das Modell einer öffentlichen Stiftung vorgeschlagen, die Regeln festlegt, nach denen die Opfer auch bei Spätfolgen entschädigt werden. Das posttraumatische Belastungssyndrom wird bei einigen Opfern erst nach Jahren auftreten. Dann kann es Probleme geben, die Kausalität nachzuweisen.

Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland hat nun erstmals versucht, sich zu entschuldigen. Was sagen die Angehörigen dazu?

Reiter: Er war schlecht beraten, nicht schon früher die moralische Verantwortung zu übernehmen. Man hatte ihm wohl suggeriert, dass dies zugleich ein juristisches Schuldeingeständnis sei. Sauerland ist für viele Opfer eine Reizfigur, weil sie ihn als politisch Verantwortlichen sehen. Allerdings hat er sofort unseren Vorschlag unterstützt, die Entschädigung der Opfer von der juristischen Schuldfrage abzukoppeln.

Es gibt einen Bericht der Staatsanwaltschaft, der aber nicht öffentlich gemacht wird. Haben Sie dafür Verständnis?

Reiter: Nein. Die Opfer und die Hinterbliebenen haben kein Verständnis dafür, dass der Bericht zurückgehalten wird. Sie können nur schwer ertragen, wenn der Öffentlichkeit Fakten vorenthalten werden.

Was meinen Sie?

Reiter: NRW-Innenminister Ralf Jäger hat jede Mitverantwortung des Landes von sich gewiesen und sich vor die Polizei gestellt. Das war falsch: Auch die Polizei hat große Fehler gemacht, denken Sie nur an die fehlende Vorrangschaltung für die Handys und den Wachwechsel.

Bei der Trauerfeier vor einem Jahr hat Ministerpräsidentin Hannelore Kraft eine beeindruckende Rede gehalten. Wie war die Resonanz bei den Angehörigen?

Reiter: Sehr gut, Frau Kraft hat glaubwürdig Mitgefühl vermittelt. Doch den Worten müssen auch Taten folgen. Das Verhalten des Innenministers Jäger steht dazu im Widerspruch. Wir fordern neben der Schadenregulierung eine öffentliche Stiftung, die sich für die Opfer einsetzt. Hier könnte sich das Land beteiligen und für die Opfer Flagge zeigen.