70 Jahre NRW Erinnerungen an 1946: Hunger beherrschte die ersten Jahre

Helmut Wehr aus Krefeld hat die Gründung des Landes NRW vor 70 Jahren miterlebt. Sein Werdegang wurde geprägt durch das Bindestrichland.

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Willich/Düsseldorf. Vielleicht war Helmut Wehr einer der ersten Zivilisten, die von der Gründung eines neuen Bundeslandes erfahren haben. „Es wird am 21. Juli 1946 gewesen sein“, sagt Wehr (88). Er hat damals für die Reichspost die Fernmeldeanlage im Mannesmannhaus abgebaut, als ein Telegraphen-Oberinspektor mit dem Rad von der Reichspostdirektion am Graf-Adolf-Platz herbeieilte, um die Demontage zu stoppen: „Im Mannesmannhaus zieht eine deutsche Teilregierung ein, Düsseldorf wird die Hauptstadt.“ Die Telefonanlage wurde noch gebraucht. Das Mannesmannhaus war zwischen 1946 und 1953 Sitz der NRW-Staatskanzlei.

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So wusste Wehr, was der damalige Ministerpräsident Rudolf Ameluxen erst am 1. August 1946 erfahren sollte: Die Provinzen Nordrhein und Westfalen werden verheiratet. Eine Zweckehe, die nun schon seit 70 Jahren hält.

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Die Geschichte vorher ist kurz: Wehr wurde 1927 in Krefeld geboren, erlebte die Kindheit und Jugend unter dem Nazi-Regime und im Zweiten Weltkrieg. Mit 14 Jahren begann er eine Ausbildung bei der Post — als Fernmelder.

Damit beginnt der längere Teil der Geschichte. Jener, der ihn bis heute beschäftigt. Wehr arbeitete bis zum 75. Lebensjahr für die Post — 61 Jahre lang. Mit 18 Jahren baute er die Anlage im Mannesmannhaus ab, als die Eheschließung zweier Provinzen sich anbahnte. Heute sitzt Wehr in beiger Hose und Weste in seinem Schreibtischstuhl in Willich. Seine Wohnung hat etwas museales. An der Wand hinter dem braunen Ledersofa hängen Gemälde und historische Waffen aus dem 18. Jahrhundert — fein säuberlich mit kleinen Erklärungsschildern versehen. In der Vitrine erheben sich Modelle der Funktürme aus Frankfurt und Düsseldorf.

Wehr erzählt häufig mit erhobenem Zeigefinger — ganz nah an seinem Gesicht — aus seiner Vergangenheit — vor allem von seinem Beruf. Das Fernmeldewesen ist der rote Faden im Leben.

Die Ehe der Provinzen Nordrhein und Westfalen war umstritten. Während vor allem das ländliche Westfalen gegen die Verbindung war, weil man fürchtete, das industrialisierte Rheinland mitversorgen zu müssen, gab es im Rheinland keine Bedenken: „Das ist damals kaum wahrgenommen worden“, sagt Wehr. „Das war 1946 — da standen die schlimmen Winter noch bevor.“

Seinen ersten bewussten Kontakt mit dem neuen Bundesland hatte Wehr 1948. Damals arbeitete er in Mönchengladbach an der Einrichtung des Telefonnetzes für die Briten. „Die Neugier war so groß, dass wir uns mal verfahren haben.“ Dort sei dann eine Fahrzeugkolonne mit dem Ministerpräsidenten Karl Arnold gekommen. „Das habe ich erst im Nachhinein erfahren — aber ich dachte damals schon: Da fährt Nordrhein-Westfalen.“

Während der ersten Jahre nach dem Krieg herrschte vor allem Hunger, trotz der Ehe mit dem ländlichen Westfalen. „In Krefeld gab es kein Brot. Die Bäcker hatten keine Kohle — die haben wir wegfahren sehen, nach Frankreich oder in die Niederlande“, erinnert sich Wehr. Die Menschen hätten sich gefragt „Wie geht es dir?“ und geantwortet „Oh, mager und gesund“.

Aber es wurde besser. „Erst einmal waren wir stolz, zugenommen zu haben.“ Es ging bergauf an Rhein und Ruhr. Damals habe ein Bekannter Wehrs aus Bayern gesagt: „Ihr habt doch alles in Nordrhein-Westfalen.“ Das habe sich mit der ersten Kohlekrise 1957 geändert — und „ich habe das Schlag für Schlag mitbekommen.“ Wehr meint das Zechensterben. Als Öffentlichkeitsbeauftragter hat er die alte Fernmeldeanlage der 1987 stillgelegten Zeche „Thyssen Niederrhein Oberhausen“ angeboten bekommen.

Er sammelte weiter und wollte ein Museum für Fernmeldetechnik in NRW eröffnen. Einen ganzen Ordner mit Fotos der Sammlung hat er vor sich auf dem Wohnzimmertisch liegen. Aber die Exponate sind mittlerweile in Hessen, bei der Museumsstiftung Post und Telekommunikation (siehe Info-Kasten). „Ich habe ja Verständnis dafür, aber ich habe dafür gearbeitet, dass es in Nordrhein—Westfalen ist“, bedauert er. Eigentlich wollte er einen Standort in Düsseldorf aufbauen.

Stichwort Strukturwandel: Das Ruhrgebiet habe sich gut entwickelt, sagt Wehr. „Früher war man nur froh, wenn man da durch war“. Aber heute hätten junge Leute Aufstiegschancen. Das gelte für ganz NRW — selbst Krefeld hat eine Hochschule. „Ich bedauere, dass es das nicht zu meiner Zeit gab“, sagt Wehr.

Zu seiner Zeit — in Sachen Post ist das ziemlich lang. Und noch sehr präsent. So sehr, dass er gerne seine Memoiren schreiben würde. Titel: „Erinnerungen eines Fernmelders“. Eigentlich wollte er mit dem Kalten Krieg einsteigen. Aber noch wichtiger sei die Gründung des Landes NRW.