Bundestagswahl TV-Duell: Polit-Kirmes im Niemandsland
Was in CDU und SPD Rang und Namen hat, hat sich am Sonntagabend in einem Nachbar-Studio des TV-Duells zum Zugucken versammelt — und anschließend vor Kameras und Mikrofonen um die Deutungshoheit des Ausgangs zu streiten.
Berlin. An normalen Abenden ist Adlershof eine öde Gegend. Ein paar überdimensionierte TV-Studios, in der Nachbarschaft vergammelt die BER-Flughafenruine vor sich hin. Vor dem Studio, in dem „Das TV-Duell“ über die Bühne geht, haben sich die Fan-Clubs von Angela Merkel und Martin Schulz versammelt. Die CDU-Anhänger sind bestens gelaunt, die Schulz-Fans trommeln und tanzen sich Mut an. Ein Studio weiter versammelt sich, was vor während und nach der Sendung um die Deutungshoheit dieses Duells ringt.
Allein aus der Riege der Ministerpräsidenten sind für die CDU Armin Laschet, Volker Bouffier und Daniel Günther, für die SPD Malu Dreyer und Manuela Schwesig erschienen, Bundesminister wie Heiko Maas und Ursula von der Leyen, natürlich die Generalsekretäre Peter Tauber und Hubertus Heil, Polit-Groupies wie Uschi Glas, ein paar versprengte Linke und Grüne wie Dietmar Bartsch und Reinhard Bütikofer, und, und, und. Es gibt ein Mais-Süppchen, Linguine aus dem Parmesanleib, soud vide gegartes Beef mit Selleriecreme, Currywurst aus dem Pappschälchen und jede Menge gesponserten Alkohol unter Kitsch-Kronleuchtern — also genau das, was sich viele Bürger unter dem abgehobenen Berliner Politbetrieb vorstellen.
Auf den zwanglos aufgestellten Höckerchen nimmt die Politik genau so zwanglos geordnet nach Fraktionen Platz; die CDU rechts, die SPD links. Natürlich ist man noch nett zueinander, aber wie glückliche Koalitionäre sehen die Anhänger der Kontrahenten nicht mehr aus. Die CDU-Parteimitglieder verfolgen das Duell weitgehend schweigend, zumal dort Parteifreunde beieinander sitzen, deren Freundschaft nach der Wahl wegen reichlich unterschiedlicher Meinungen noch viel wird aushalten müssen. Bei den Sozialdemokraten regt sich gelegentlich Applaus, wenn Martin Schulz sowohl nach Aussage-Qualität wie auch nach Geschmeidigkeit objektiv klar vor der Kanzlerin liegt.
Nach knapp der Hälfte der Sendezeit bekommen die meisten Politiker das Duell nicht mehr auf den Bildschirmen, sondern nur noch mit den Ohren mit: Die Blicke sind starr auf die Handys gerichtet, da wo die wichtigste Währung aufpoppt: Aufmerksamkeit des Publikums. Schulz‘ Ansage, im Falle seiner Kanzlerschaft, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beenden, schafft es sowohl bei der Deutschen Presse-Agentur wie auch bei der Tagesschau unter die Eilmeldungen. Womit klar ist, wer von diesem Duell mehr profitiert — und dass die CDU und die Kanzlerin für den Rest dieses Wahlkampfes alles tun werden, solche Zusammentreffen zu vermeiden. Nach einer Dreiviertelstunde klatschen die Unionsfreunde vor Nervosität, wenn Merkel versucht ins Spiel zu finden.
Keine Frage: Für Martin Schulz ist dieser Abend ein richtig guter. Und vielleicht auch ein bitterer. Denn was, so könnte sich Martin Schulz sich fragen, ist eigentlich bis zu diesem TV-Duell nicht schief gegangen, seit Sigmar Gabriel im Januar zurück- und ihn in die Kanzlerkandidatur hineintrat? Anfang März, als die Schulz-Euphorie in der SPD manische Züge trug, das peinliche Video mit dem Jubelbefehl „Ruft doch mal Martin“, das die SPD nicht mehr aus der Welt erklärt bekam. Dann die ohrenbetäubende Klatsche bei der Saarland-Wahl, die die Parteizentrale sich dem Vernehmen nach schön gesoffen hat: Immerhin keine monatelangen Koalitions-Verhandlungen mit der Linken.
Im Mai die Wahl in Schleswig-Holstein, bei der der SPD-Kandidat und schließlich abgewählte Ministerpräsident Torsten Albig wirklich alles dafür getan hat, um zu verlieren und Schulz zu beschädigen. Dann kam NRW, die bitterste aller Niederlagen im eigenen Bundesland, wo Hannelore Kraft — von der Schulz ohnehin vermutet, dass sie ihn einfach nicht leiden kann — darauf beharrte, einen Landeswahlkampf ohne Bundespolitik zu führen. Drei Landtagswahlen in Folge, bei denen die SPD ohne jede Chance war. Und keine Aussicht, Angela Merkel innenpolitisch auf die Wiese zu treiben; sie sonnte sich im Frühjahr in außenpolitischen Erfolgen, während Sigmar Gabriel als Außenminister sich in der Türkei und Israel diplomatische Prügel abholte. Kann eigentlich innerhalb eines halben Jahres noch mehr schiefgehen?
Aber natürlich kann es. Und so geschah es ja auch: Im Juni starb Helmut Kohl, der Deutschland bis zur Beisetzung am 1. Juli regelrechte CDU-Medien-Festspiele bescherte. Dann kam im Juli der völlig überraschende Rücktritt von Erwin Sellering als Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern aufgrund seiner Krebserkrankung, womit sich Manuela Schwesig als wichtigstes Sympathie-Gesicht einer künftigen Schulz-Regierung von der Bühne erst einmal verabschiedete. Dann die Krawalle beim G20-Gipfel, die wieder nicht Angela Merkel, sondern dem Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) angelastet wurden, der zwar selbst auf einem ganz eigenen Ticket fährt, aber doch auch bella figura für das Schulz-Team machte — das bis jetzt sehr wenig prominente Unterstützung außerhalb der eigenen Partei erfuhr. Die CDU hat immerhin Uschi Glas; dem Schulz-Tross folgt irgendein Tatort-Darsteller in das Studio in Adlershof.
Als der Sommer sich dem Ende neigte, war eigentlich alles schiefgegangen, was hätte schiefgehen können. Was konnte da noch kommen? Verrat und Dummheit, zum Beispiel: Gerhard Schröder, von Schulz demonstrativ als Geste der Zusammenführung der Partei bei jüngsten Parteitag in Dortmund in Szene gesetzt, zieht rücksichtslos seine Russland-Karriere durch. Gabriels missverständliche Erklärungen, ob er nun noch an einen Sieg von Schulz glaubt oder nicht, sind trotz gegenteiliger Bekundungen nicht aus der Welt. Und schließlich am Morgen vor dem Duell der Lapsus, eine Google-Anzeige zu schalten, in der die SPD Martin Schulz zum Sieger des TV-Duells erklärt — rund 20 Stunden, bevor es stattfindet.
All das hat Martin Schulz sich vielleicht während der länglichen Erklärungen von Angela Merkel noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Und dass es eigentlich an ein Wunder grenzt, dass er und die SPD trotz all dieser Pannen noch nicht unter 20 Prozent gerutscht ist. Und wo er stehen könnte, wenn es noch ein zweites Fernsehduell gäbe. Und das die Wahl vielleicht doch noch lange nicht verloren ist.
Nach einer Stunde bringen sich im Kronleuchter-behangenen Nachbar-Studio des Duells die Kämpfer um die Deutungshoheit in Stellung; das Meiste, was sie in Kameras und Mikrofone sprechen, hat mit dem Duell nichts zu tun, sondern stand — wie die SPD-Google-Anzeige — schon lange vorher fest. Was die Wähler glauben, ist möglicherweise am Ende etwas anderes.