Interview Wagenknecht: Die SPD wird der Union immer ähnlicher

Berlin. Nach den aktuellen Umfragen hat die Linke gute Chancen, das Rennen der „kleinen“ Parteien um den dritten Platz bei der Bundestagswahl zu gewinnen. Für Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht stehen die Zeichen weiter auf Opposition. Warum, erklärt sie im Gespräch mit unserem Berliner Korrespondenten Stefan Vetter: Frau Wagenknecht, falls es für Platz 3 reicht - was wird Ihre Partei mit der „Bronzemedaille" anfangen?

Sahra Wagenknecht (Die Linke). Archivbild.

Foto: Michael Kappeler



Sahra Wagenknecht: Wir werden weiter Druck für soziale Verbesserungen machen. Das geht am besten, wenn die Linke wieder Oppositionsführerin wird.

Opposition ist Mist, hat ein führender Sozialdemokrat mal gesagt. Für Sie nicht, oder?

Sahra Wagenknecht:
Opposition wirkt. Es macht einen Unterschied, ob die Linke die Opposition dominiert, oder etwa die FDP. Noch besser wäre es natürlich, wenn wir in einer Regierung den Niedriglohnsektor eindämmen und die Rentenkürzungen zurücknehmen könnten. Nur müsste die Linke aktuell etwa 20 Prozent erreichen, damit es eine Mehrheit mit SPD und Grünen gäbe.

Bundesarbeitsministerin Nahles spielt den Ball zurück und wirft der Linken mangelnden Regierungswillen im Bund vor.

Sahra Wagenknecht: Das finde ich kühn. Es war die SPD, die sich 2005 und 2013 entschieden hat, die rot-rot-grüne Mehrheit nicht zu nutzen und stattdessen lieber mit der Union zu koalieren, um dann im nächsten Wahlkampf wieder soziale Wohltaten zu versprechen, die sie alle vorher mit uns hätte umsetzen können.

Aber fakt ist doch, dass vor allem Sie immer nur die Unterschiede zur SPD herausgestellt haben anstatt Gemeinsamkeiten zu suchen. Wie soll Rot-Rot-Grün da funktionieren?


Sahra Wagenknecht: Wir stellen die Unterschiede zur aktuellen Regierungspolitik heraus. Das Traurige ist doch, dass die SPD der Union immer ähnlicher geworden ist...

Und wir dachten immer, es sei genau umgekehrt.

Sahra Wagenknecht: Die Sozialdemokratisierung der Union ist eine Legende. 40 Prozent der deutschen Bevölkerung haben heute ein geringeres Einkommen als Ende der 1990er Jahre. Wir haben mehr ungesicherte Jobs, und immer mehr Menschen werden mit Armutsrenten um ihrer Lebensleistung betrogen. Dafür sind CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne gemeinsam verantwortlich. Das ist das Gegenteil sozialdemokratischer Politik.

Kanzlerkandidat Martin Schulz hat jetzt vier Voraussetzungen für eine Regierungsbeteiligung genannt: gerechte Löhne, bessere Schulen, sichere Renten und ein solidarisches Europa. Können Sie das auch unterschreiben?

Sahra Wagenknecht: Das kann ich vollständig unterschreiben. Ich bin nur gespannt, wie er so eine Fortsetzung der großen Koalition rechtfertigen will. Übrigens: Die Absenkung des Rentenniveaus, die auch Frau Nahles jetzt beklagt, hat die SPD einst beschlossen. Wir brauchen eine Rentenreform wie in Österreich: Da zahlen alle ein, auch Selbständige und Beamte, und ein Durchschnittsrentner bekommt monatlich 800 Euro mehr.

Ums Soziale scheinen sich die Leute derzeit aber weniger zu sorgen als um innere Sicherheit und Flüchtlinge. Woran liegt das?

Sahra Wagenknecht: Es gibt eine starke Verunsicherung, die nicht zuletzt soziale Gründe hat. Wir haben einen großen Niedriglohnsektor, bezahlbarer Wohnraum fehlt, Schulen sind schlecht ausgestattet. Diese Probleme sind das Ergebnis der Politik der letzten Jahre und werden leider durch die Zuwanderung verschärft. Es sind vor allem die weniger Wohlhabenden, die das zu spüren bekommen.

Aber diese Menschen müssten sich erst recht sorgen, hätte die Linke das Sagen, denn in ihrem Parteiprogramm werden — Zitat — „offene Grenzen für alle" propagiert.

Sahra Wagenknecht: Das ist eine Zukunftsvision und keine aktuelle Forderung. Jeder weiß, dass wir das Elend dieser Welt nicht dadurch überwinden, dass immer mehr Menschen nach Deutschland kommen. Die Bundesregierung muss aufhören, durch ihre Handelspolitik das Elend zu vergrößern, etwa indem wir lokale Anbieter in Afrika niederkonkurrieren. Waffenlieferungen in Kriegsgebiete müssen gestoppt werden, denn Kriege sind eine der wichtigsten Fluchtursachen.

Früher hat die Linke die Protestwähler eingesammelt. Heute ist es die AfD. Was hat Ihre Partei falsch gemacht?

Sahra Wagenknecht: Viele, die gegen die unsoziale Politik protestieren wollen, wählen nach wie vor die Linke. Die AfD hat ein Wirtschaftsprogramm, das eher dem der FDP ähnelt: sie will noch mehr privatisieren, lehnt Rentenerhöhungen und öffentlichen Wohnungsbau ab. Dass eine solche Partei mit billigen Parolen Erfolg hat, hat mit der allgemeinen Verunsicherung zu tun. Bis heute hat die Regierung keinen Plan für die Integration der 900.000 Flüchtlinge. Sie schaut zu, wie radikale islamistische Hassprediger Einfluss gewinnen. Das macht vielen Angst.