Der Brexit und die Folgen Merkel: "Kein Drumherumgerede. Dieser Tag ist ein Einschnitt"

Merkel berät sich mit allen Bundestagsfraktionen. Rufe nach einer Reform der EU werden lauter.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), im Bild mit Fraktionschef Volker Kauder, zu Beginn der CDU/CSU Fraktionssitzung im Deutschen Bundestag in Berlin.

Foto: Wolfgang Kumm

Berlin. Es ist eine kurzfristig anberaumte Krisensitzung, aber als die Kanzlerin gegen Mittag die Partei- und Fraktionschefs aller Bundestagsparteien empfängt, wirkt sie "nicht schwer erschüttert", wie einer danach berichtet. Rund eine halbe Stunde lang wird die Lage nach dem Brexit-Entscheid der Briten in dem Kreis erörtert, dann sagt Angela Merkel (CDU), sie werde noch ein "bisschen nachdenken" über das weitere Vorgehen. In Krisenzeiten Ruhe zu bewahren, die Dinge abwägen, das ist eine ihrer Stärken.

Später vor der Presse in sommerlich türkisfarbenem Jackett mahnt die Regierungschefin: "Die Europäische Union ist stark genug, um die richtigen Antworten auf den heutigen Tag zu geben." Ein typisches Merkelsches "Wir schaffen das". Man dürfe nun "keine schnellen und einfachen Schlüsse aus dem Referendum" ziehen, "die Europa nur weiter spalten würden". Jetzt nicht in Panik verfallen, jetzt auch nicht ein Scheitern der EU als Ganzes herbeireden, das ist Merkels Botschaft, die sie später auch bei der Sondersitzung der Bundestagsfraktion der Union wiederholt.

Aber sie sagt auch: "Es gibt nichts drum herum zu reden: Dieser Tag ist ein Einschnitt für Europa." Handschriftlich hat sie sich ihre Worte an die Abgeordneten auf einen Block geschrieben. Der Kanzlerin kommt nun eine entscheidende Rolle zu, damit die Krise nicht zur Katastrophe wird. Für Montag hat sie EU-Ratspräsident Donald Tusk, Italiens Regierungschef Matteo Renzi und Frankreichs Präsident François Hollande nach Berlin eingeladen. Am Wochenende werde es noch "eine Menge Telefonate geben", heißt es aus Merkels Umfeld.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) berät sich schon am Samstag mit seinen Kollegen aus fünf anderen EU-Gründungsstaaten in Berlin. Wie soll der Brexit konkret organisiert werden? Wie verhindert man, dass es nun auch in anderen Ländern zu Volksabstimmungen kommt? Wie muss sich Europa reformieren? Darum geht es. Dienstag will Merkel in einer Sondersitzung des Bundestages eine Regierungserklärung abgeben, bevor sie dann zum Gipfel mit den anderen EU-Staatschefs nach Brüssel reist.

Der Reichstag brummt wie selten, die Abgeordneten diskutieren auf den Fluren, lassen sich von Medien interviewen. Viele Parlamentarier berichten, sie hätten sich extra ganz früh den Wecker gestellt, um die ersten Zahlen aus London nicht zu verpassen. "Ich habe nicht damit gerechnet", ist der eine Satz, den man an diesem historischen Tag besonders häufig unter der Reichstagskuppel hört. Der zweite lautet: "Die EU kann nicht weitermachen wie bisher."

Die Linken fordern als Konsequenz eine stärkere soziale Orientierung Europas. "Die EU-Technokraten und ihre neoliberale Austeritätspolitik haben Europa-Skepsis und Nationalismus den Boden bereitet." Auch NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft verlangt auf Twitter soziale Themen mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Sigmar Gabriel räumt ein, man müsse auch in der Bundesregierung jetzt "neu debattieren". Der Vizekanzler: "Nur durch Sparen allein entsteht keine Arbeit".

Gabriel ist morgens um Sechs der erste deutsche Politiker gewesen, der sich äußert. "Damn", twitterte er knapp auf Englisch. "Ein schlechter Tag für Europa." Der Schock, die Ernüchterung ist überall mit Händen zu greifen. "Das ist ein schwerer Schlag für Europa", sagt CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt zerknirscht.

Die Enttäuschung über den Ausgang des Referendums ist einem besonders anzusehen: Unions-Fraktionschef Volker Kauder. Der überzeugte Europäer hat kein Verständnis für die Briten, schon gar nicht für den noch amtierenden konservativen Premier David Cameron. "Wenn die führende Regierungspartei jahrelang schlecht über Europa redet, braucht man sich nicht zu wundern, dass so etwas kommt", giftet Kauder mit feuchten Augen. "Politische Führung sieht nach meiner Vorstellung anders aus."

Die AfD hat zur Pressekonferenz in ihre Berliner Parteizentrale geladen, auf der Vorstandsmitglied Alexander Gauland fordert, eine Volksabstimmung über "derartige Existenzfragen" auch in Deutschland zuzulassen. Parteichefin Frauke Petry, die nicht selbst auftritt, erklärt schriftlich: "Die Zeit ist reif für ein neues Europa." Die Eurokritiker sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch.

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) versucht dem Tag ein wenig die Dramatik zu nehmen. Bei der Eröffnung der Bundestagssitzung begrüßt er die Abgeordneten in der Früh mit dem Satz: "Großbritannien hat gestern darüber befunden, aus der Europäischen Union auszutreten. Und dennoch ist die Sonne heute Morgen wieder aufgegangen. So bedauerlich das eine ist, so beruhigend ist das andere."