Interview Barley: "Wir müssen Europa zu einem sozialen Europa machen"

SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley spricht im Interview über ihren Abschied von Berlin, die europäischen Großeltern ihrer Kinder und den globalen Kampf um Steuergerechtigkeit.

„Mein ganzes Leben ist von Europa durchzogen“: Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) strebt ins Europäische Parlament nach Brüssel.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Frau Barley, Sie sind Bundesjustizministerin und eine der wahrgenommenen neuen Führungsgesichter der SPD. Warum wollen Sie nach Europa?

Katarina Barley: Als ich in den Bundestag kam, war Europa mein Thema Nummer eins, ich ging damals zuerst in den Europaausschuss. Das hat sich dann anschließend in die juristische Richtung entwickelt, was mit meinem beruflichen Vorleben zu tun hat. Aber ich bleibe Europäerin vom Scheitel bis zur Sohle. Mein ganzes Leben ist von Europa durchzogen.

Befällt Sie keine Wehmut, Berlin zu verlassen und Brüssel zur neuen Heimat werden zu lassen?

Barley: Ich bin gerne Justizministerin, klar. Aber viele Menschen spüren das doch gerade auch: Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem die überzeugtesten Europäer nach Brüssel müssen. Dazu zähle ich mich auch. Als meine Entscheidung fiel, ging es auch meiner Partei nicht so gut. Und ehrlich: Ein Europa ohne starke Sozialdemokratie möchte ich mir nicht vorstellen.

Was verbindet Sie persönlich mit Europa?

Barley: Mein Vater ist Brite, meine Mutter Deutsche, ich habe beide Staatsangehörigkeiten und habe ein Jahr mit Erasmus-Stipendium in Paris studiert. Dort habe ich einen Mann kennengelernt, dessen Vater Spanier und dessen Mutter Niederländerin ist. Wir haben geheiratet und zwei wundervolle Kinder bekommen. Die haben also vier Großeltern aus vier verschiedenen Ländern. Sie begreifen sich stark als Deutsche und Spanier, haben aber auch ein sehr, sehr enges Verhältnis zu meinem englischen Vater. Er spricht viel englisch mit ihnen. Ganz ehrlich: Meine Kinder haben hervorragende Voraussetzungen, ich beneide sie darum. Schließlich: Ich habe im Europarecht promoviert. Und an meinem Wohnort im Vierländereck zu Luxemburg, Belgien und Frankreich habe ich in diesem Verbund auch gearbeitet. Also: Ich bin Europa durch und durch.

Seit Jahrzehnten wird über dieses Europa gestritten: Mal ist es den Menschen egal, mal greift es zu sehr in die nationale Autonomie ein, dann soll es wieder ganz stark sein. Wo steht Europa jetzt?

Barley: Jeder spürt, dass wir uns jetzt entscheiden müssen, in welchem Europa wir leben wollen. Das wird durch den auch für mich besonders tragischen Brexit noch einmal deutlich. Er ist das beste Beispiel dafür, was geschieht, wenn man Rechtspopulisten gewähren lässt. Die machen alles kaputt und haben keinen Plan dafür, was danach folgt. Und das Zweite ist das, was Macron immer wieder angesprochen hat: Wenn wir uns doch einig sind, dass wir Europa wollen – wie wollen wir Europa denn nun wirklich?

Wie wollen Sie Europa?

Barley: Europa als Wirtschaftsraum ist gut und schön, aber wenn wir Akzeptanz bei der Bevölkerung wollen, dann müssen wir den nächsten Schritt tun und Europa zu einem sozialen Europa machen.

Dieser nächste Schritt fällt uns offenbar schwer. Macron marschiert, und die aktuelle Bundesregierung, zu der auch Sie gehören, kommt nicht hinterher. Muss die SPD zum Treiber der Regierung in der Europafrage werden?

Barley: Wir als SPD sind die Einzigen in Deutschland, die wirklich ein soziales Europa durchsetzen wollen. Den europaweiten Mindestlohn zum Beispiel: 60 Prozent des Durchschnittseinkommens in jedem Land – das ist der Wert, mit dem man oberhalb der Armutsgrenze liegt. Das hieße, Menschen wären nicht mehr gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, und der Dumpingwettbewerb hätte ein Ende. Das hieße aber auch, dass unser Mindestlohn in Deutschland auf etwa zwölf Euro steigt.

Unser Redakteur Olaf Kupfer und Katarina Barley im Gespräch vor der Wuppertaler Stadtkulisse.

Foto: SPD

Das Thema Wohnen treibt die SPD um. Was lässt sich von Europa lernen?

Barley: Ich war gerade in Wien, die sind uns meilenweit voraus. Die haben 1919 im sogenannten roten Wien angefangen, in kommunale Wohnungen zu investieren, und parallel dazu Genossenschaften gefördert. 60 Prozent der Wiener leben heute in öffentlich geförderten Wohnungen. Wir waren in einem alten Teil der Stadt, dort zahlen die Wiener zwischen 4,50 und fünf Euro. Mitten in der Stadt. Wir können jetzt nicht die Zeit bei uns zurückdrehen. Aber wir können von Wien lernen und es in Zukunft besser machen: Zum einen mehr Fördermittel in Europa bereitstellen. Und nicht nur den klassisch sozialen Wohnungsbau für die Schwächsten fördern, sondern auch sozial gemischte Wohngebiete. Das stärkt auch den sozialen Zusammenhalt. Dazu müssen wir die EU-Beihilfskriterien ändern.

Noch so ein sozialdemokratisches Thema: Wie kann Steuergerechtigkeit in Europa aussehen?

Barley: Das Gegenstück vom sozialen Europa ist, dass die, die bei uns ihre Gewinne machen, auch ihren Teil dazu beitragen und Steuern zahlen. Dazu gehören auch die großen amerikanischen Konzerne Amazon, Google und Co.

Warum ist das so schwierig?

Barley: Weil man sich europaweit einigen muss und beim Thema Steuern in Europa noch das Einstimmigkeitsprinzip herrscht. Wir haben das gerade beim Vorstoß von Olaf Scholz zu Digitalsteuern in Europa gesehen, der eine große Mehrheit hatte, aber vier Länder waren dagegen – und haben das blockiert. Wir wollen dieses Einstimmigkeitsprinzip abschaffen. Und Digitalsteuern versuchen wir nun weltweit über die OECD einzuführen, die weltweite Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Europa ist durchsetzt von konservativen Bestrebungen, die Wirtschaftseinheit zu nutzen, darüber hinaus aber dem europäischen Gedanken durch Abschottung zu begegnen. Wie ist es um Ihre Euphorie bestellt bei diesen Bedingungen?

Barley: Ich gehe da mit sehr viel Zuversicht ran. Wenn selbst jemand wie Macron, der ja kein Sozialdemokrat ist, erkannt hat, dass Europa zu einem sozialen Europa werden muss, dann macht mir das Mut. Wir brauchen die Akzeptanz der Bürger. Europa als reines Friedens- und Wirtschaftsprojekt reicht nicht mehr. Je weiter der Krieg zurückliegt und je weniger Zeitzeugen es gibt, umso mehr muss Europa aufs Neue beweisen, wofür es gut ist. In allen Mitgliedsstaaten zeigen die Umfragen, dass das soziale Thema gewinnt. Ich bin auch sehr optimistisch, was die Wahlbeteiligung angeht.

Auch in Deutschland?

Barley: Wir sehen das am enormen Abruf unserer Wahlkampfmaterialien. Diese Wahl interessiert die Menschen stärker als vergangene Europawahlen.

Die SPD hat schwere Zeiten hinter sich, womöglich steckt sie noch mittendrin. Kann diese Europawahl der Partei einen Schub geben?

Barley: Ich habe diese Kandidatur auch angenommen, weil es der Wunsch meiner Partei war. Auch, weil ich dazu beitragen will, dass das Ergebnis gut wird für die SPD. Ich hoffe, dass uns das gelingen wird.

Wie sieht Ihr Führungsanspruch in dieser Partei aus? Sie gelten zusammen mit Frauen wie Manuela Schwesig oder Franziska Giffey als eines der starken Gesichter der SPD.

Barley: Ich bin im Parteivorstand und werde auch weiter in Berlin präsent sein und mich einbringen. Eine gute Europaabgeordnete zu sein – das ist meine nächste Station. Und ich werde am 26. Mai zufrieden sein, wenn ich weiß, dass ich alles für ein gutes Wahlergebnis gegeben habe.