Video Sylvia Löhrmann: "Wir sind in Hab-Acht-Stellung" (mit Video)

NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) spricht im Interview mit unserer Zeitung über das Umfragetief der Partei, den Ausstieg aus der Braunkohle und flexible Schulformen.

Frau Löhrmann, man hat den Eindruck, Ihre Freundschaft zu Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat gelitten. Stimmt das?

Sylvia Löhrmann: Nein. Dass man im Wahlkampf stärker auf die eigenen Ziele schaut, ist doch selbstverständlich. Aber unsere Zusammenarbeit war immer von großer gegenseitiger Wertschätzung geprägt — und sie ist es immer noch.

Nach Ihren aktuellen Umfragewerten müssen Sie die Grünen sogar um den Einzug in den Landtag sorgen.

Löhrmann: Umfragen darf man nicht überbewerten, weder positiv noch negativ. Es gibt auch keine Wechselstimmung im Land, Rot-Grün ist die beliebteste Konstellation. Wir wissen aber, dass wir Grüne noch besser herausstellen müssen, wie wichtig unsere Ziele für NRW sind. Dennoch ist das ein Weckruf für uns. Wir sind in Hab-Acht-Stellung.

Sie haben RWE aufgefordert, auf den Braunkohleberg im Tagebau Hambach zu verzichten. Warum erst so kurz vor der Wahl?

Löhrmann: Wir wollen in den nächsten 20 Jahren aus der Braunkohle aussteigen. Daran arbeiten wir seit langem, ich erinnere gerne an die Garzweiler-Verkleinerung. Das war harte Arbeit. Wir haben das jetzt eingefordert, weil jüngst ein ostdeutscher Energieversorger die Reduzierung des Braunkohleabbaus in der Lausitz erklärt hat. Ganz ohne politischen Druck, sondern aus ökonomischer und ökologischer Vernunft.

Unsere Region fordert das Abschalten des grenznahen belgischen Atomkraftwerkes Tihange. Aber die Bundesumweltministerin spielt da offensichtlich nicht mit?

Löhrmann: Wir schätzen Barbara Hendricks als Person durchaus. Aber Umweltschutz und Klimapolitik nehmen unter ihr im Bundeskabinett nicht die Bedeutung ein, die sie haben müssten.

Warum können die Grünen derzeit weniger begeistern als in der Vergangenheit?

Löhrmann: Klassische grüne Themen, wie zum Beispiel Klima- und Umweltschutzpolitik, spielen in der öffentlichen Diskussion derzeit keine besonders hervorgehobene Rolle. Diese Themen werden überlagert von der inneren Sicherheit, der Integrations- und Flüchtlingspolitik. Und doch hängt das alles zusammen...

....wie meinen Sie das?

Löhrmann:
Der Klimawandel ist ursächlich dafür, dass viele Menschen ihre Heimat durch Dürren verlieren. Auch diese Fluchtursachen müssen wir bekämpfen. Tun wir das nicht, werden sich Fluchtbewegungen wie im Jahr 2015 wiederholen bzw. verstärken.

Durch die türkische Gemeinschaft in NRW geht ein Riss und spaltet Erdogan-Kritiker und -Befürworter. Ist die Integrationsarbeit gescheitert?

Löhrmann:
Nein. Das sehe ich so nicht. Es gibt ein Miteinander, das ich als vorbildlich empfinde. Umso energischer muss interveniert werden, wenn etwas schief läuft. Damit sich das Fehlverhalten Einzelner nicht auf die ganze Gruppe auswirkt. Es gilt, Verständigung und das Miteinander zu fördern. Deshalb ist ja auch islamischer Religionsunterricht so wichtig.

Man hat den Eindruck, die Diskussion um Schulpolitik beschränkt sich nur noch auf die Frage G8 oder G9?

Löhrmann: Mit teils schwer zu vereinbarenden Positionen muss ich mich ständig auseinander setzen: Zum Beispiel damit, dass die Landeselternschaft plötzlich eine völlig andere Position eingenommen hat. Wir Grüne wollen das Kind in den Mittelpunkt stellen, nicht die Strukturen. Daran muss sich Schulentwicklung ausrichten — und das beweisen gute Schulen tagtäglich.

Was heißt das denn?


Löhrmann: Ich möchte im Schulgesetz verankern, dass Jugendliche und Eltern innerhalb derselben Schule zwischen G 8 und G9 wählen können. Das bedeutet, an jedem Gymnasium und an jeder Gesamtschule ist ein acht- oder neunjähriger Weg zum Abitur möglich. Etliche Kinder und Jugendliche schaffen G8, andere brauchen länger. Die Entscheidung darüber sollte zu Beginn der siebten Jahrgangsstufe fallen.

Wie fällt ihre Zwischenbilanz beim Thema Inklusion an den Schulen aus?

Löhrmann: Da sind wir noch nicht am Ziel, sondern erst im dritten Jahr der Umsetzung des Rechtsanspruchs. Da kann noch nicht alles überall gleich gut funktionieren. Aber die richtigen Schritte sind gemacht. Die Eltern von Kindern mit besonderem Förderbedarf sind jetzt keine Bittsteller mehr, wenn sie wollen, dass ihr Kind an einer Regelschule lernt. Der Inklusionsanteil steigt maßvoll, Schritt für Schritt. Es treibt mich an, diesen Weg weiter zu gehen.

Also ist das Gelingen von Inklusion eine Frage von Zeit und Geld — und keine Frage des Konzeptes?

Löhrmann: Es ist beides. Wir haben für die Inklusion rund 5000 Stellen bereitgestellt und mehr Sonderpädagogen eingestellt. Außerdem haben wir neue Studienplätze geschaffen. Lehrer brauchen aber fast sieben Jahre, bis sie fertig ausgebildet sind. Insgesamt geben wir über 1,2 Milliarden Euro für Inklusion aus, wir investieren massiv in Beratung und Fortbildung. Wir haben allerdings durch die Zuwanderung plötzlich 40.000 Kinder mehr an den Schulen. Das ist für alle eine große Herausforderung, die die Schulen mit großem Engagement meistern.

2010 hat sich die rot-grüne Landesregierung von den Linken tolerieren lassen. Würden Sie das nochmal machen?


Löhrmann: Moment: Es gab keine Tolerierung durch die Linken sondern eine Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten. Ich glaube nicht, dass es nochmal eine vergleichbare Situation geben wird. Die Minderheitsregierung war eine Notlösung, und wir haben ja nicht nur mit den Linken gearbeitet. Wir haben den Schulkonsens mit der CDU gemacht, wir haben den Stärkungspakt für die Kommunen mit der FDP vereinbart und mit den Linken haben wir die Studiengebühren abgeschafft. Das heißt: Wir haben immer unserer politischen Ziele verwirklicht. Alle Fraktionen im Parlament haben zunächst mit der Minderheitsregierung zum Wohle des Landes konstruktiv zusammengearbeitet. Ob das nochmal so wäre, vermag ich nicht vorherzusehen.