Kanada 2015 Kim Kuhlig und der gelungene Seitenwechsel
Montréal. Silvia Neid hatte vorher gesagt, dass sie das grelle Scheinwerferlicht in dem abgedunkelten Pressesaal zu sehr blenden würde, um die Protagonisten auf den dunklen Klappstühlen zu erkennen.
So hatte die Bundestrainerin zunächst nicht gesehen, dass sich am Tag vor dem WM-Viertelfinale zwischen Deutschland und Frankreich in die dritte Reihe auch Kim Kulig gesetzt hatte, die aber nach der offiziellen Pressekonferenz noch im Raume blieb. So kam es zur zufälligen Begegnung. „Kim!“ rief Neid hocherfreut, um nach einer herzlichen Umarmung mal ein bisschen zu plauschen. Solche Begebenheiten spielen sich immer wieder bei dieser Frauen-WM ab; ganz egal, ob in Ottawa, Winnipeg, Vancouver oder nun Montreal.
Irgendwie gehört die 25-Jährige gefühlt also doch noch dazu, obwohl sie in einer völlig anderen Rolle auf der Bildfläche auftaucht. Als Expertin für das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) tourt Kulig durch Kanada, gibt an der Seite von Moderator Sven Voss Kommentare und Einschätzungen ab. „Es ist super interessant und macht totalen Spaß. Ich habe gemerkt, dass es hinter der Kamera genauso gutes Teamwork braucht wie auf dem Platz“, erzählt sie, ertappt sich allerdings dabei, „dass ich bei den deutschen Spielen immer noch sehr aufgeregt bin.“
Doch als sie sich kürzlich in Winnipeg auf der TV-Plattform am Rande des Gruppenspiels China gegen Neuseeland in einer Sendepause fleißig Notizen zu den taktischen Formationen beider Teams machte, da konnte jeder merken: Da hat jemand die neue Aufgabe angenommen, die zunächst als Phase des Sich-Ausprobierens angelegt war. Beide Seiten können sich mittlerweile vorstellen, die Zusammenarbeit fortzusetzen. „Zuhause bekomme ich jedenfalls von meinen Freunden viel positive Resonanz“, erzählt Kulig lachend. Und ihre Gemütslage schlägt nicht mehr sofort um, wenn sie an das zurückdenkt, was sich vor vier Jahren bei einem WM-Viertelfinale ereignete. „Ich habe das inzwischen gut verarbeitet, aber an den Moment werde ich mich immer erinnern, weil der 9. Juli 2011 mein Leben verändert hat.“ Persönliches Schicksal. Früh riss ihr damals im vermaledeiten Spiel gegen Japan (0:1 nach Verlängerung) das Kreuzband, dem viele Komplikationen und mehrere Operationen folgten. Sie kämpfte sich mühevoll zurück, kam auch am 5. April 2013 — einem 3:3 gegen die USA in Offenbach das 33. und bislang letzte Mal in der DFB-Auswahl zum Einsatz — aber wenig später ging gar nichts mehr. Weder in der Nationalmannschaft noch im Verein.
Manager Siegfried Dietrich und Trainer Colin Bell, die Leitungsebene des Champions-League-Siegers 1. FFC Frankfurt, sind in die Olympiastadt von 1976 gekommen und haben sich mit ihr getroffen. Ihr Vertrag läuft am 30. Juni aus, und im Grunde ist klar, was bald verkündet wird: das offizielle Karriereende. „Sie hätte als aktive Fußballerin eine Strahlkraft wie Steffi Jones oder Birgit Prinz bekommen können“, erklärt Dietrich. Bell erzählt von dem letzten Versuch im Januar dieses Jahres im Trainingslager im türkischen Belek. „Im Freundschaftsspiel gegen den FC Zürich hat sie noch mal 20 Minuten mitgespielt. Alles schien in Ordnung. Danach hat sich das Knie wieder gemeldet. Sie hatte Tränen in den Augen. Seitdem hat sie nie wieder mittrainiert.“
Die Causa Kulig bewegt. Nur sie selbst sagt: „Ich muss akzeptieren, dass ich nicht mehr das tollste Knie habe. Mein Fußballerdasein ist weit weg.“ Die Schwäbin mit dem markanten Knoten in der ausladenden Lockenmähne blickt seit geraumer Zeit nach vorne. Sie hat ein Studium der Innenarchitektur in Darmstadt angefangen, sich aber inzwischen in den Studiengang Sportmanagement mit dem Abschluss zur Sportfachwirtin vertieft und kann sie sich verschiedene Szenarien für die Zukunft vorstellen. Ein Gutes hat ihr Seitenwechsel ja: Sie wusste von vornherein, dass sie beim WM-Finale dabei ist. Das ZDF überträgt am 5. Juli aus Vancouver. Mit Kim Kulig.