Londons Vorgänger-Spiele: Geschichte und Geschichten

Berlin (dpa) - Alle Olympischen Spiele haben ihre Geschichte und Geschichten. Und manchmal sind es Verlierer, deren Bilder sich unlöschbar mit einem Ereignis verbinden.

Bei der olympischen Marathon-Entscheidung 1908 in London lief der Italiener Dorando Pietri als überlegener Erster ins Stadion ein. Auf der Aschenbahn stürzte der vollkommen Erschöpfte fünfmal. Es schien, „als könne Pietri in Anwesenheit von Königin Alexandra auf der Bahn sterben“, stand später im offiziellen Bericht. So weit ist es nicht gekommen. Helfer stützten den Torkelnden bis ins Ziel. Pietri wurde wegen unerlaubter Hilfe disqualifiziert - und stieg dennoch zu einer olympischen Legende auf. Der zum Sieger erklärte Zweite Johnny Hayes (USA) wirkt in den olympischen Geschichtsbüchern wie eine Randnotiz.

Ganz anders die Szenerie bei Londons zweiten Spielen 1948. Da trumpfte die 30 Jahre alte Fanny Blankers-Koen, eine zweifache Mutter aus den Niederlanden, so unerhört auf, dass sie nach ihren Siegen über 100 Meter, 200 Meter, 80-Meter-Hürden und mit der Sprintstaffel bewundernd „fliegende Hausfrau“ genannt wurde. Dazu wurde Fanny Blankers-Koen zwölf Jahre nach den Vorgänger-Spielen von Berlin, wo sie Fünfte mit der Staffel und Sechste im Hochsprung geworden war, auch ein sportliches Bindeglied zwischen olympischer Vorkriegs- und Nachkriegszeit.

Londons erste Olympiade ist eine Notgeburt. Eigentlich sollten die vierten Spiele nach ihrer Premiere 1896 in Athen in Rom veranstaltet werden. Doch Italien sah sich außerstande, als 1906 der Ausbruch des Vesuvs zu einer nationalen Katastrophe führte. Die Briten sprangen als Nothelfer ein und schufen Erstaunliches und Beispielhaftes bis zum heutigen Tag. Sie gaben Olympia mit der Vorgabe von Wettkampfregeln und der Zulassung des metrischen Systems ein erstes Format. Sie profitierten davon, dass die Spiele nicht wie zuvor in Paris (1900) und St. Louis (1904) als ein bloßes Anhängsel von Weltausstellungen ausgetragen wurden. Das in nur neun Monaten geschaffene Olympiastadion wurde zu einer Mehrzweck-Arena für Leichtathletik, Schwimmen, Radrennen und weiteren elf Sportarten.

Bei den über sechs Monate gestreckten 110 Entscheidungen in 22 Sportarten gab es erstmals einen Einmarsch der Nationen unter Nationalflaggen, wobei die USA und Schweden auf ihre Fahnen verzichten mussten. Angeblich waren für sie keine aufzutreiben. Vieles wirkt aus heutiger Sicht beliebig. Es gab kaum Qualifikationen, Amateur war, wer sich dafür hielt. Zur Austragung kamen Tennis auf Rasen und in der Halle, Hochsprung und Weitsprung aus dem Stand, Doppelschuss auf laufenden Hirsch, Tauziehen und je drei Wettbewerbe im Motorbootrennen und Eiskunstlauf.

„Unterstützt“ von durchweg einheimischen Kampfrichtern triumphierte Großbritannien im verbissenen Duell mit den wegen der Anreisestrapazen ermatteten Amerikanern mit 56:23 Siegen. Die Abordnung von 84 Sportlern aus dem Deutschen Reich brachte es lediglich auf drei erste Plätze und machte dafür schlechte Vorbereitung, zu späte Ankunft, ungewohntes Essen und miserable Unterbringung verantwortlich. Zwei Athleten ragten heraus: Johannes (Hanns) Braun als erster deutscher Leichtathlet und Otto Froitzheim als erster deutscher Tennisspieler von Weltformat. Braun gewann Bronze über 800 Meter und Silber mit einer Staffel. Froitzheim wurde Zweiter im Rasentennis.

Nur drei Jahre nach einer vom Zweiten Weltkrieg geschundenen und ermatteten Welt sandten die zweiten Spiele in London unterschiedliche Signale. Ein Teil der Athleten trat mit eigenen Handtüchern und mitgebrachter Nahrung als Selbstversorger an und nächtigte in Studentenunterkünften und Militärbaracken. Hingegen marschierten die französischen Athletinnen im New Look von Christian Dior ein. So war es dann doch auch ein Aufbruch in eine neue Zeit, von der deutsche Sportler als Repräsentanten des Kriegsverursachers noch ausgeschlossen blieben.

Neben der fabelhaften Fanny Blankers-Koen ging der Stern von Emil Zatopek auf, jenem phänomenalem Langstreckenläufer, der als „tschechische Lokomotive“ Weltruhm erntete. In London startete Zatopek seine Karriere mit dem Sieg über 10 000 Meter und einer Silbermedaille über 5 000 Meter. Vier Jahre später in Helsinki schaffte die Läufer-Legende sogar ein bisher unerreichtes und wohl nie mehr zu erreichendes Gold-Triple über 5 000 Meter, 10 000 Meter und im Marathon.

Die Olympischen Spiele 1908 in London:

Geschichtlicher Hintergrund 1908: In Deutschland herrscht Kaiser Wilhelm II., Reichskanzler ist Bernhard von Bülow. Das Deutsche Reich gerät in Europa immer mehr in Isolation. Aufrüstung ist Vorbote für den Ersten Weltkrieg. Frauen dürfen in Parteien und Gewerkschaften eintreten, in Basel findet gegen die Schweiz das erste offizielle Fußball-Länderspiel statt. USA 122, Niederlande 118, Deutschland 84. Australien und Neuseeland treten gemeinsam unter der Bezeichnung Australasien an. Südafrika repräsentiert Afrika, das Osmanische Reich (Türkei) mit einem Sportler Asien.

Zeitraum der Spiele unter dem Schirmherrn König Edward VII.: 27. April bis 31. Oktober, unterteilt in „Frühlingsspiele“ (mit Ballsportarten wie Hallentennis, Polo), „Sommerspiele“ mit Zweidritteln der Wettbewerbe (Kernsportarten wie Leichtathletik, Schwimmen, Schießen, Turnen, Radsport, Ringen, Fechten, Boxen, aber auch Rasentennis und Tauziehen), „Nautische Spiele“ (Segeln, Rudern, Motorbootrennen) und „Winterspiele“ (u.a. Eiskunstlauf, Fußball, Rugby, Feldhockey)

Teilnehmer: 2008, darunter 37 Frauen Länder: 22, darunter 16 aus Europa Meiste Meldungen: Großbritannien 773, Frankreich 215, Schweden 172,

Sportarten: 22 mit 110 Entscheidungen Zuschauer: 300 000 Medaillen: 1. Großbritannien 56-50-39, 2. USA 23-12-12, 3.Schweden 8-6-11, 4. Frankreich 5-5-9, 5. Deutschland 3-5-5 - 19 Länder gewinnen mindestens eine Medaille. Ein Sonderpreis für die beste Ländermannschaft ist Wegbereiter für die späteren (inoffiziellen) Medaillenspiegel.

Die Olympischen Spiele 1948 in London:

Geschichtlicher Hintergrund 1948: Ein zerstörtes Deutschland drei Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs. Einführung der D-Mark in den drei westlichen Besatzungszonen, Ausarbeitung des Grundgesetzes, das am 24. Mai 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft gesetzt wurde. Am 7.Oktober 1949 mit der Gründung der DDR auf sowjetisch besetztem Gebiet endgültige Teilung Deutschlands. Keine Einladung zu den Spielen an den deutschen Kriegsverursacher und auch nicht an Japan. Absage der Sowjetunion.

Zeitraum der Spiele unter dem Schirmherrn König Georg VI.: 29. Juli bis 6. August. Kosten: 600 000 britische Pfund (etwa sieben Millionen D-Mark).

Teilnehmer: 4104, darunter 390 Frauen. Meiste Meldungen: Großbritannien 313, USA 303, Italien 177, Schweiz 174, Schweden 173 Länder: 59

Sportarten: 18 mit 136 Entscheidungen. Reduzierung auf „klassische“ Sportarten, die alle auch 2012 noch im Wettkampfprogramm sind. Zum letzten Male seit den Spielen 1912 Vergabe von Preisen auf 18 Gebieten der Kunst (Architektur, Literatur, Musik, Malerei und Grafik, Bildhauerkunst).

Zuschauer: 1 247 283 Medaillen: 1. USA 38-27-19, 2. Schweden 17-11-18, 3. Frankreich 11-6-15, 4. Finnland 10-8-6, 5. Ungarn 10-5-13. 38 Länder gewinnen mindestens eine Medaille.