Die Weltmeister von der Ersatzbank
Mittendrin und doch nicht dabei: Viele Weltmeister erlebten den Titelgewinn von der Ersatzbank aus — das gesamte Turnier hindurch.
Düsseldorf. Objektiv betrachtet darf man sich Raúl Albiol als einen ziemlich glücklichen Menschen vorstellen. Zumindest was den Verlauf seiner Fußballkarriere angeht. Schließlich hat der 32-jährige Spanier in seiner Vita Vereine wie den FC Valencia, Real Madrid oder den SSC Neapel stehen. Alles Top-Klubs, die Titel versprechen — und die hat der Außenverteidiger auch geholt. Neben spanischer Meisterschaft und diversen anderen Pokalen ziert auch die wichtigste Trophäe im Fußballkosmos Albiols Briefkopf: der WM-Titel, errungen 2010 in einem dramatischen Finale gegen die Niederlande (1:0 n. V.).
Bei der anschließenden Jubelfeier ging im Goldregen von Johannesburg allerdings unter, dass Albiol — auch bedingt durch eine Knöchelverletzung — als einziger Feldspieler der „La Roja“ im gesamten Turnier gar nicht zum Einsatz kam. Ein Weltmeister ohne Auftrag sozusagen. Ein Schicksal, das er mit 63 weiteren Spieler in der nunmehr 88-jährigen Geschichte der WM teilt. Und sollte nichts Außergewöhnliches passieren, könnte morgen, wenn Frankreich und Kroatien um den begehrten Goldpokal streiten, mit Adil Rami die Nummer 65 folgen.
Bislang trat der 32-jährige Profi von Olympique Marseille mehr durch seine auffällige Bartkreation (einem Mix aus Voll- und gezwirbeltem Schnauzbart) als durch sportliche Taten in Erscheinung. Das mag auch daran liegen, dass auf seiner Position mit Raphael Varane (Real Madrid) und Samuel Umtiti (FC Barcelona) das beste Verteidiger-Pärchen des Turniers gesetzt ist. Letzterer köpfte die „Equipe Tricolore“ erst vor wenigen Tagen gegen Belgien (1:0) ins Finale. Das dürfte Ramis Einsatzchancen nicht größer werden lassen.
Der auf Korsika geborene Franzose könnte damit (ungewollt) in die Fußstapfen von Matthias Ginter, Erik Durm und Kevin Großkreutz treten, die vor vier Jahren beim deutschen WM-Triumph von Rio de Janeiro vor dem gleichen Dilemma standen.
Für Großkreutz hätte jedoch auch alles anders laufen können. Fünf Minuten waren in der zweiten Halbzeit der Verlängerung gegen Argentinien gespielt, als sich der Ur-Dortmunder an der Seitenlinie zur Einwechslung bereithielt. Er sollte Bastian Schweinsteiger ersetzen, der nach einem Schlag von Kun Agüero mit blutüberströmten Gesicht am Seitenrand behandelt wurde.
Doch „Schweini“ biss auf die Zähne und kehrte noch mal auf den Platz zurück, Großkreutz nahm wieder die Zuschauerrolle ein. Dumm gelaufen. Mit seinem Schicksal hat der heute 29-Jährige jedoch nie gehadert. „Bei so einer WM geht es nicht um Einzelschicksale“, sagte er kurz nach der WM in einem Interview mit dem „Kicker“. „Ich habe ans Team gedacht und auf meine Weise geholfen. Ich habe versucht, meinen Anteil an einer guten Stimmung im Team zu haben und beim Training alles rauszuhauen. Das war mir wichtig.“
Vielleicht tröstet den Mittelfeldspieler, der mittlerweile beim KFC Uerdingen in der 3. Liga angekommen ist, ja die Tatsache, dass er sich — im Gegensatz zu Weltstars wie Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo — auf jeden Fall Weltmeister nennen darf. Und in Zeiten von Twitter, Facebook und Co. gibt es auch genug Nutzer, die oft und gerne in diversen Postings auf diesen Umstand hinweisen. Es könnte Schlimmeres geben.
In den Reihen der Bank-Weltmeister findet sich allerdings auch ein äußerst klangvoller Name, den die heutige Generation höchstwahrscheinlich nur noch aus verpixelten Youtube-Videos kennt: Ronaldo Luís Nazário de Lima, kurz: Ronaldo. Der Brasilianer war zur Jahrtausendwende einer der besten Angreifer weltweit, 1994 bei der WM in den USA aber nicht mehr als ein Praktikant. Das Verpasste holte der damals 17-jährige Teenager jedoch acht Jahre später in Japan und Südkorea nach, als er die „Selecao“ im Endspiel gegen Deutschland (2:0) im Alleingang zum Titel schoss.
Überhaupt Brasilien. Die Kicker vom Zuckerhut sind nicht nur wegen ihrer fünf Titel Rekordhalter, sie sind auch zusammen mit Uruguay (1950) der Weltmeister mit den am wenigsten eingesetzten Feldspielern. 1962 in Chile setzte Trainer Aymoré Moreira lediglich elf von 19 Spielern ein. Unter den acht Bankdrückern war auch ein Stürmer namens Pepe, der bereits vier Jahre zuvor beim Titelgewinn in Schweden in der Zuschauerrolle verharren musste und damit der einzige Doppelweltmeister ohne jeden Einsatz ist.
Ein echtes Unikat. Und ein Pechvogel zugleich, der einfach in die falsche Zeit hineingeboren wurde. Denn Spielerwechsel waren bei seinen beiden WM-Teilnahmen noch nicht möglich. Erst zur WM in Mexiko 1970 erlaubte die Fifa bis zu zwei Auswechslungen. Pech gehabt — wenn man angesichts von zwei Titeln überhaupt davon sprechen mag.
Fakt ist: Pepe spielte keine einzige Minute bei einer WM. Und Raúl Albiol? Der erfüllte sich seinen Traum von einem WM-Einsatz dann 2014 in Brasilien und spielte im letzten Gruppenspiel gegen Australien (3:0) über die volle Distanz. Das Blöde dabei: Zu diesem Zeitpunkt war der Titelverteidiger schon längst ausgeschieden.
Bitter für Albiol — wobei: Den WM-Titel kann ihm keiner mehr nehmen. Ein Lionel Messi kann das nicht behaupten.