WZ-Redakteure erinnern sich Zum 75. Geburtstag – Unsere Begegnungen mit Günter Netzer

Düsseldorf · Ein Mönchengladbacher mit Legendenstatus und extravagantem Lebensstil: Günter Netzer ist ein Typ, den es im Fußball kaum mehr gibt. Heute wird der Ausnahmefußballer 75 Jahre alt. Eine Hommage unserer Redakteure an einen der besten Mittelfeldstrategen.

Unsere Redakteure erinnern sich an Günter Netzer (v.l.): Lothar Leuschen, Stephan Esser, Rolf Eckers, Jan Wiefels und Jochen Schmitz.

Foto: Sebastian Gollnow/dpa/WZ

Lothar Leuschen: „Auf Stippvisite in Kleinenbroich“

Jetzt muss es aber auch mal gut sein – heißt es früher oder später, wenn ein Mensch oder ein Ereignis über Gebühr gefeiert wird. Jetzt muss es aber mal gut sein mit der Lobpreisung von Günter Netzer. Er war doch auch nur ein Fußballer, ein Kicker in einer Zeit, in der die Hosen enger, die Haare länger, die Gehälter niedriger und das Spiel langsamer gewesen sind. Stimmt alles, bis auf die Tatsache, dass Günter Netzer nur ein Fußballer war. Irgendwie war er mehr als das, und irgendwie ist er das geblieben. Auch und erst recht im Alter von nun 75 Jahren.

Der Sportclub Teutonia Kleinenbroich ist kein besonders bedeutender Verein. Zu seinen besten Zeiten erreichte der Club die Landesliga, heute dümpelt er in den Kreisligen zwischen Neuss und Mönchengladbach. Aber für mich war die Teutonia damals der Nabel der Welt, Fußball sowieso viel wichtiger als Sprache und Sachkunde. Und Fußball wurde noch wichtiger an jenem Abend, als Günter Netzer für maximal 90 Sekunden im Flur unserer Wohnung in Kleinenbroich stand.

Günter Netzer - ein Bild aus der Tiefe der 70er Jahre.

Foto: dpa

Die Welt ist so klein, und der Beweis für diese These ist dieses winzige Ereignis, dass in meiner Erinnerung immer noch riesengroß ist. Mein Vater hatte einen Cousin, deutlich jünger und in jungen Jahren auf dem Karrieretrip. Als offenbar sehr talentierter Rechtsanwalt hatte dieser Cousin auch Kontakt in die Prominentenszene von Mönchengladbach, die im Grunde scheinbar nur aus Spielern der Fohlenelf bestand. Man zog dann und wann gemeinsam um die Häuser, gesittet, aber sichtbar. Mönchengladbach war kein Sündenpfuhl, überhaupt nicht zu vergleichen mit der Münchener Schande-Schickeria. Und weil das so war, war es auch nicht ungewöhnlich, dass der Cousin meines Vaters kurz in Kleinenbroich Station machte, um meinem Vater etwas mitzuteilen oder etwas zu bringen. Und ebenso wenig ungewöhnlich war es, dass Günter Netzer ihn auf dem Umweg vermutlich nach Düsseldorf oder Köln begleitete und mal kurz guten Abend sagte. Irgendwie alles normal. Nicht aber für mich, der plötzlich den damals bestimmt besten Fußballer der Welt an der Tür stehen sah. Und heute, knapp 45 Jahre später? Der kleine Junge von damals hat es natürlich nicht zum Fußballprofi gebracht. Aber Günter Netzer ist immer noch einer seiner Helden. Warum? Weil Günter Netzer als Senior ist, wie er als junger Mann, als Fußballer war: elegant und eigensinnig, klar und deutlich, unnahbar, aber höflich und nett, beredt und interessant, einer, der dem Geschäft mit dem Fußball 2019 an allen Ecken und Enden fehlt.

Stephan Esser: „Der große Tag neben Netzer auf der Tribüne“

Es muss die Aufregung gewesen sein, die mich lähmte, als ich nur andächtig neben ihm saß. Ich bin neun oder zehn Jahre. Es ist die Pressetribüne auf dem Bökelberg und wenn es einen gab, der sich da hinsetzen konnte und wollte, dann war es Günter Netzer. Er durfte ja alles und er machte alles, was sonst kaum jemand wagte zu tun. Als Spieler die Nähe zur Presse zu suchen. Er war der King, stand über den Dingen. Er war an dem Spieltag verletzt, schaut den Kollegen von oben zu. Ich weiß nicht mehr gegen wen die Borussia spielte, ich weiß auch nicht mehr, wie es ausgegangen ist. Ich weiß aber – es war ein großer Tag für mich.

Stephan Esser sitzt andächtig neben seinem Idol, Günter Netzer.

Foto: Stephan Esser

Und heute findet dieser einmalige Moment meines Lebens vor allem bei Kollegen viel Beachtung, wenn sie das Foto sehen, bei denen aus dem Sport und denen, die der Borussia zugeneigt sind. Davon gibt es nicht wenige am Niederrhein. Mein Vater berichtete über die Borussia, als freier Mitarbeiter dieser Zeitung. Günther hieß er. Und ich durfte mit. Das ging damals so einfach, ohne Kontrolle, ohne Ausweis. Ich war dabei, immer ganz nah dran. Auch nach dem Spiel bei den Pressekonferenzen. Um in den Raum zu kommen, musste man an der Kabine der Borussen vorbei, der Dusche und dem Massageraum mit Charly Stock. Und immer lag da einer auf der Bank. Einer meiner Idole. Ehrlicher konnte Fußball nicht sein. Transparenter auch nicht. Aber niemand hatte irgendeine Lust auf Sensation. Erlebnis, Abenteuer umwehte diesen Club, dieses Team, den Trainer und ihren Mythos, personifiziert durch den „King vom Bökelberg“.

Netzers Faszination speist sich aus dem Umstand, das hat er oft gesagt, Chancen, die sich ihm boten, konsequent genutzt zu haben. Und doch war er gleichzeitig sehr bodenständig. Sein Leben bis zu seinem Wechsel nach Madrid hätte bei allem Glanz und aller Extravaganz auf einen Bierdeckel gepasst. Denn die zentralen Orte lagen kaum mehr als 800 Meter voneinander entfernt. Sein Elternhaus steht auf der Gasthausstraße in Mönchengladbach. In der Altstadt. Fußball gespielt hat er beim 1. FC Mönchengladbach auf der Luisenstraße, sieben Minuten Fußweg von Zuhause entfernt. Als er später schon ein Star war – seine Diskothek Lovers Lane war auf der Waldhausener Straße, drei Minuten vom Elternhaus weg, nur einmal um die Ecke gehen, und zum Restaurant La Lacque brauchte es fünf Minuten Fußweg. Da war der Bökelberg mit rund zwei Kilometern schon weit weg. 1973 wurde Netzers Welt dann deutlich größer – im Trikot von Real Madrid. Und ich habe die Welt nicht mehr verstanden.

Rolf Eckers: „Ein Autogramm für die Ewigkeit“

In Günter Netzers Leben komme ich nicht vor. Umgekehrt sieht das anders aus. Ich war zehn, damals, im Spätherbst 1970. Die Gladbacher Borussia, ein halbes Jahr zuvor zum ersten Mal Deutscher Meister geworden, trainierte oft im Hauptquartier, einer Niederlassung der britischen Rheinarmee am Rande Mönchengladbachs. Dort gab es erstklassige Rasenplätze, die auch im November nicht unter Wasser standen. Die Macher der Borussia wussten das, und wir Jungs aus den umliegenden Dörfern wussten das auch. Im Hauptquartier fand meine erste und wichtigste Begegnung mit Günter Netzer statt. Am Ende prangte das ersehnte Autogramm auf der Innenseite meines linken Unterarms. Mit rotem Kuli. Und ans Waschen war nicht mehr zu denken.

Unter Hennes Weisweiler kreierte die Borussia zu jener Zeit eine neue Art des Fußballs. Bedingungslos offensiv, voller Kreativität und mit hohem Risiko. Tore zu schießen war wichtiger als sie zu verhindern. Statt Malochern standen Künstler auf dem Rasen. Und Netzer war ihr Star. Er wurde hochgejubelt zur Identifikationsfigur der politischen Linken, der Nonkonformisten, er galt als Gegenentwurf zu Franz Beckenbauer, dem eher bieder auftretenden Bayern mit Suppen von Knorr auf dem Tisch. Netzer, der Mann mit den langen blonden Haaren und der Nummer 10 auf dem Rücken, geadelt durch das Buch „Rebell am Ball“, schaffte mühelos den Sprung von den Sportseiten ins Feuilleton.

Netzer hat später stets beteuert, völlig unpolitisch agiert zu haben. Und in der Tat war er als Ferrari fahrender Discothekenbesitzer nicht das Idealbild eines Revoluzzers. Aber seine Art des Fußballspiels, sein selbstbewusstes Auftreten auf und vor allem neben dem Platz haben dazu beigetragen, die Koordinaten der Republik ein wenig zu verändern, die Koordinaten in meinem Leben sowieso.

Günter Netzer holt am 28.03.1974 in Düsseldorf seinen neuen Ferrari-Sportwagen ab.

Foto: dpa/Wilhelm Bertram

Jan Wiefels: „Auch mit über 70 Jahren noch ein Star“

Günter Netzer habe ich, Jahrgang 1983, nie live Fußball spielen sehen. Und dennoch hatte er für mich als Gladbach-Fan einen ähnlichen Star-Status wie Stefan Effenberg, Uwe Kamps und andere Spieler der 90er Jahre, in denen ich fußballerisch sozialisiert wurde. Das lag an den Erzählungen meines Vaters. Wenn er – was angesichts der zeitweise tristen Gegenwart ab und zu vorkam – von den Gladbacher-Erfolgen der 70er Jahre erzählte, kam ein Name immer wieder vor: Günter Netzer.

Die Geschichten drehten sich um die Selbsteinwechslung mit dem Sieg-Tor im Pokalfinale 1973, die Disco Lovers Lane und natürlich seinen Ferrari. Netzer, so viel war klar, hatte viel mehr Strahlkraft als Franz Beckenbauer – der war schließlich auch Bayer. Vor allem war Netzer auch eine hervorragende Projektionsfläche. Wenn ich mir eine Karriere als Fußballstar ausmalte, sollte sie genau so lässig aussehen wie die von Günter Netzer. Doch ein anderer Aspekt als der sportliche Werdegang des gebürtigen Mönchengladbachers mit seinen Anekdoten ist aus heutiger Sicht viel bemerkenswerter: Dass es ihm gelungen ist, nach seiner Zeit als Spieler weiter in hohem Maße erfolgreich zu sein. Während andere Ex-Profis ihr Vermögen verjubelten oder sich erfolglos als Trainer probierten, gründete Netzer eine Sportrechte-Agentur und gewann als Moderater an der Seite von Gerhard Delling einen Grimme-Preis. Skandale? Nicht bekannt.

Vor rund drei Jahren traf ich Günter Netzer zum ersten Mal bei einer Preisverleihung in Düsseldorf. Es hätte eine Enttäuschung werden können. Doch der damals 72-Jährige wirkte in einem kurzen Gespräch auf mich weniger wie ein Weltmeister und erfolgreicher Geschäftsmann, sondern – im positiven Sinn – wie ein recht normaler und höflicher Mensch vom Niederrhein.

Jochen Schmitz: „Er kam aus der Tiefe des Raumes“

Günter Netzer war ein Ausnahmefußballer, von dem sich sogar das Feuilleton angesprochen fühlte. Literatur-Kritiker Karl Heinz Bohrer schuf die Redewendung: „Er kam aus der Tiefe des Raumes.“ Ein Begriff, der zum ewigen Klassiker wurde. Ich hatte, zum einen als begeisterter Anhänger des Fußballs, zum anderen als Journalist, das Glück und Vergnügen, Netzer etliche Male zu erleben, zu bewundern und zu genießen. Es ist viel haften geblieben.

Netzer, der Spielgestalter und Torjäger von Borussia Mönchengladbach, Netzer, der Aufstiegsheld 1965, Netzers besondere Ausstrahlung, die erste deutsche Meisterschaft 1970 im mittlerweile längst verschwundenen Bökelberg-Stadion. Schließlich die unvergleichliche Selbsteinwechslung im Pokalfinale gegen Köln. Ich glaube, dass sich gerade dieser Zeitabschnitt in der Vereinsgeschichte der Fohlen Elf unauslöschlich ins Gedächtnis zahlreicher Fußball-Liebhaber eingeprägt hat und Netzer zur Legende machte.

Als unsere Zeitung anno 2010 zum 110-jährigen Bestehen von Borussia Mönchengladbach eine Online-Umfrage startete und fragte, wer der beste und populärste Gladbacher Fußballer aller Zeiten gewesen sei, fiel das Ergebnis überwältigend aus. Tausende stimmten ab, und der „King vom Bökelberg“ hängte, wie ehedem mit seinen kraftvollen und raumgreifenden Schritten, alle anderen Größen ab – ob Vogts oder Wimmer, Heynckes oder Bonhof, Matthäus, Effenberg oder Simonsen. Wir verabredeten uns daraufhin zu einem Gespräch.

Die Dankbarkeit, Bescheidenheit und Freude, die Günter Netzer, der seiner Zeit für ein Schweizer Sport-Marketing-Unternehmen als Exekutiv-Direktor tätig war, dabei empfand und unaufdringlich zum Ausdruck brachte, haben mich schwer beeindruckt. „Es gab doch auch später noch viele Gute, warum gerade ich?“, waren genau seine Worte.