Phantomtor Fall für die FIFA - 22 Minuten nachspielen?
Sinsheim (dpa) - Ganz Fußball-Deutschland diskutiert über ein Loch im Netz: Das Skandalspiel mit dem Phantomtor von Stefan Kießling wird sogar ein Fall für den Weltverband FIFA - und den DFB noch mächtig beschäftigen.
Während 1899 Hoffenheim nach seinem Einspruch gegen die Wertung des kuriosen 2:1-Sieges von Leverkusen auf ein Wiederholungsspiel pocht, würde Bayer-Sportdirektor Rudi Völler am liebsten nur nochmal 22 Minuten spielen. Der Fall hat am Wochenende landauf-landab eine Debatte um Paragrafen und Videobeweis ausgelöst. Dabei gibt es von Thomas Müller einen ganz pragmatischen Verbesserungsvorschlag: „Ich denke, ab sofort werden die Tornetze aus Stahl sein“, scherzte der Nationalspieler des FC Bayern.
Der Fall wird vor dem Sportgericht verhandelt, voraussichtlich übernächste Woche, da beim DFB-Bundestag am Donnerstag und Freitag in Nürnberg Gremien neu besetzt werden. Bayer werde jedes Urteil akzeptieren, sagte Völler der „Bild am Sonntag“. „Aber mein Gerechtigkeitssinn spricht für eine andere Lösung: Wir spielen die letzten 22 Minuten neu. Beim Stande von 1:0 von Leverkusen geht es mit einem Abstoß für Hoffenheim weiter“, erklärte der 53-Jährige. Das habe er Wolfgang Niersbach, dem Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), in einem Telefongespräch auch so verdeutlicht. So etwas ist in den Statuten zwar nicht vorgesehen, aber „dann muss man eben die Satzung ändern und der DFB über seinen Schatten springen“, so Völler.
Abseits von juristischen Spielzügen appellierte Hoffenheims Trainer Markus Gisdol im ZDF-„Sportstudio“ an das Fair Play: „Wir müssen einfach an unseren Sport denken. Keiner will solche Tore.“ Alles andere als ein Wiederholungsspiel, so hatte es Gisdol bereits unmittelbar nach dem Abpfiff in der Sinsheimer Rhein-Neckar-Arena gesagt, „wäre ja ein Witz“. Er berief sich auf den Fall Thomas Helmer.
Der Nationalspieler hatte 1994 beim 2:1 des FC Bayern gegen den 1. FC Nürnberg ebenfalls ein Phantomtor erzielt. Das Spiel wurde wiederholt, anschließend gewannen die Bayern 5:0 und wurden Meister. Nach diesem Urteil des DFB-Sportgerichts gab es damals heftigen Zoff mit der FIFA.
Der Ausgang des Verfahrens im Fall Kießling ist offen. Der DFB machte in einer Pressemitteilung vom Samstag deutlich, dass die FIFA mehr als ein Wörtchen mitzureden haben wird. „Dass ein solches Phantomtor als ungerecht empfunden wird, können wir alle absolut nachvollziehen. Der reflexartige Ruf nach einer Wiederholung des Spiels ist verständlich, aber wir wissen aus der Vergangenheit auch, wie sehr die FIFA die Tatsachenentscheidung eines Schiedsrichters schützt“, sagte Rainer Koch, zuständiger DFB-Vizepräsident für Rechts- und Satzungsfragen.
In der Sendung „Doppelpass“ von Sport1 räumte Koch ein, dass es zu dem Tor keine zwei Meinungen gebe, aber: „Die Frage ist: Muss die Tatsachenentscheidung erschüttert werden?“ Ein Tor wie dieses anzuerkennen sei „nicht im Sinne der Schiedsrichter, des Fußballs, des Fairplays.“ Koch hofft auf ein „sehr schnelles Signal“ der FIFA.
In Paragraf 14 der Bundesliga-Spielordnung heißt es, dass rechtskräftige Entscheidungen zu Spielwiederholungen „zur abschließenden Beurteilung“ der FIFA vorgelegt werden müssen. Helmer erinnerte daran, die FIFA habe in seinem Fall „mächtig Theater“ gemacht. „Ich sehe die Chancen nicht so groß wie damals“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. „Wir haben natürlich die Situation mitbekommen, werden diese auf eine mögliche Anfrage des DFB analysieren und Stellung dazu nehmen“, erklärte Massimo Busacca, der Leiter der FIFA-Schiedsrichterabteilung.
Kießling hatte am Freitagabend in der 70. Minute auf das Tor geköpft - am Pfosten vorbei, doch der Ball war durch ein Loch im Seitennetz in Schulterhöhe ins Tor geflutscht. Dennoch erkannte der Unparteiische Felix Brych (München) das Tor zum 2:0 für die Gäste an. „Im ersten Moment habe ich gedacht, der geht nicht rein. Dann kamen alle auf mich zugestürmt, und der Ball zappelte im Netz“, erklärte Kießling später. Der 29-Jährige hatte sich unmittelbar nach der Aktion verärgert an den Kopf gefasst und abgedreht. Er habe das Ganze „nicht genau gesehen“. Er wisse auch nicht mehr genau, was er mit Referee Brych danach gesprochen habe.
Dass er den Ball nicht ins Tor geköpft hatte, hatte Kießling dem ratlosen Unparteiischen jedenfalls nicht gesagt. „Jetzt im Nachhinein ist das eine Scheiß-Situation“, meinte der Angreifer. Brych war in dem Moment jedenfalls der einsamste Schiedsrichter der Welt: Von seinen Assistenten kam keine Hilfe, die Hoffenheimer protestierten auch nicht lautstark.
So stand Brych völlig konsterniert vor den Fernsehkameras: „Es hat mir keiner gesagt, dass der Ball nicht im Tor war. Ich hatte leichte Zweifel, aber die Reaktionen der Spieler waren eindeutig, es gab kein Kontra“, meinte der Olympia-Schiedsrichter, der auf der FIFA-Liste der möglichen WM-Referees für Brasilien 2014 steht.
Gisdol und Leverkusens Trainer Sami Hyypiä forderten sogleich den Videobeweis. Eine Diskussion, die den Profifußball schon im Fall Helmer vor fast 20 Jahren beschäftigte. „Ich hoffe, dass wir da irgendwann mal eine vernünftige Regel finden. Wir sind ja nicht mehr im fünften Jahrhundert“, meinte Gisdol. Dies wäre auch im Sinne der Spielleiter, wie Herbert Fandel als Vorsitzender der DFB-Schiedsrichterkommission erneut erklärte.
Der Weltverband FIFA hatte das System von GoalControl beim Confederations Cup im Sommer in Brasilien erfolgreich getestet und der Firma den Zuschlag zur Ausrüstung aller WM-Stadien gegen. Die Kontrolle durch 14 Kameras soll aber frühestens 2014/15 in Deutschland eingeführt werden. „Ein Phantomtor wie in Hoffenheim ist bei GoalControl-4D absolut unmöglich!“, erklärte Dirk Broichhausen, Geschäftsführer des Unternehmens aus Würselen.