Gruppe B Die Feuerrote Hingabe der Waliser
Toulouse erlebt die „Leidenschaft eines Kontinents“: Wales schließt die Gruppe als Erster vor England ab — nur viele Fans haben jetzt ein Problem.
Toulouse. Irgendwann, als die sagenhafte Party mit den ohrenbetäubenden Chören sich im Stade Municipal dem Ende zuneigte, wischten sich gestandene Familienväter die Tränen der Rührung aus den Augen. Und dann fingerten die Menschen in den feuerroten Trikots ihre Handys heraus, um mitten in der Nacht aus der „rose ville“, der rosa Stadt, wie Toulouse wegen seiner Bauwerke aus dem rosafarbenen Ziegel genannt wird, die Lieben daheim zu unterrichten, dass sich die Heimkehr verzögern könnte. Das furiose 3:0 gegen Russland, womit Wales als Gruppenerster sogar den Erzrivalen England düpierte, stellte die Anhängerschaft im Südwesten Frankreichs vor eine Kardinalfrage, die alsbald die Gespräche an der Verteilstation am Palais de Justice beherrschte: Wie schafft man es bitte, bis zum Achtelfinale am Wochenende in Paris zu bleiben? Viele der mehr als 15.000 Anhänger hatten das letzte Gruppenspiel an der Garonne eigentlich als Endstation angesehen, um dann zur Familie und zur Arbeit zurückzukehren. Nun sangen sie trotzig bis tief in die Nacht: „Don’t bring me home!“ Bring mich nicht nach hause.
Als imaginärer Adressat galt Nationaltrainer Christopher „Chris“ Coleman, der alle Reisepläne mit seinen Spielern so genüsslich über den Haufen geworfen hatte. „Wir sind kein Land, das mit dem Halbfinale oder Finale rechnen kann. Das ist alles neu für uns“, bemerkte der 45-Jährige, der eine Nebenwertung als coolster EM-Coach glatt gewinnen würde. Der smarte Menschenfänger mit den dunklen Augen und der knallroten Krawatte hat dazu noch einen Satz gesagt, der wohl ins Geschichtsbuch kommt. „Als Nation sind wir geographisch klein, aber mit unserer Leidenschaft sind wir wie ein Kontinent.“
Seine dunklen Augen blitzten, sein Mienenspiel verriet für seine drei Millionen Einwohner in der Heimat vor allem eines: Stolz. „Das ist ein fantastischer und aufregender Moment, der mich wirklich glücklich macht“, beschied Coleman. Wieviel Kampfgeist seiner Delegation wirklich inne wohnt, war schon bei der Uefa-Teambesprechung zu erkennen. Wie der Trainer verriet, habe sich Wales energisch für eine Änderung im Prozedere eingesetzt. „Wir haben gefragt, ob wir in unseren roten Hemden spielen dürfen.“ Sein Team war nämlich offiziell als Gast geführt und hätte Ausweichjerseys tragen müssen. Es brauchte das gegenteilige Zeichen, wo doch Toulouse für viele Fans als „Hometown“ diente. Die Russen willigten vorher so bereitwillig ein wie sie die Waliser hinterher auf dem Feld gewähren ließen. Doch den furiosen Vortrag nur auf die Schwäche des Gegners zu führen, würde der Darbietung der tapferen Männer mit dem Drachenlogo nicht gerecht. „Die Leistung war wahrscheinlich das Beste, an der ich beteiligt war“, sagte der sichtlich ergriffene Superstar Gareth Bale. Und der bärtige Abräumer Joe Ledley legte vor der Kurve eine Einlage hin, die gewiss in keiner anständigen Tanzschule gelehrt wird. Aber genau so etwas braucht es, um das Motto „Together. Stronger“ mit Leben zu füllen.
Der westliche Part des Vereinigten Königreichs hat in Frankreich vor allem eines geschafft: den Nachweis geführt, dass Wales mehr ist als nur Bale. Gewiss, der 26-Jährige ragte mit seinem Tempo, seiner Technik und seinem dritten Turniertor zum 3:0 (67) abermals heraus, und doch wirkt er selten wie ein Solist. „Er ist mehr für uns, aber kann es nicht alleine schaffen“, sagt Coleman, der seiner Nummer elf eine zentrale Rolle mit allen Freiheiten gegeben hat, von der der 26-Jährige viel besser aufs Geschehen einwirkt als von der Seitenlinie bei Real Madrid. Vor allem Aaron Ramsey profitierte von dem verwirrenden Wechselspiel und erzielte nicht umsonst das 1:0 (11.), dem Neil Taylor alsbald das 2:0 folgen ließ (20.). Der zum „Spieler des Spiels“ gekürte Arsenal-Profi Ramsey tritt wie so viele Mitspieler den Beweis an, dass Mitläufer aus der Premier League durch die erste Turnierteilnahme seit 1958 zu einem verschworenen Kollektiv zusammengewachsen sind.
„Wir waren so lange nicht dabei, da wollten wir auf uns aufmerksam machen“, meinte Ramsey. Zum Ausgang der Erfolgsgeschichte merkte der 25-Jährige mit dem blondiertem Haar spitzbübisch an: „Alles kann jetzt passieren.“ Auch Coleman möchte das Achtelfinale zuvorderst „als Bonus“ begreifen. Ein Duell gegen einen Gruppendritten im Pariser Prinzenpark muss nicht zwangsläufig die Endstadion bedeuten, zumal kaum ein EM-Teilnehmer von solch einem tief verwurzelten Spirit beseelt scheint. Sollte am Samstag wieder kein Stoppschild auftauchen, hätte gäbe es wohl nur ein Problem: wie die freudetrunkene Gefolgschaft daheim die Verlängerung einer Frankreich-Tour bis nach Lille erklärt. Dort findet übernächsten Freitag ein mögliches Viertelfinale statt.