Interview mit Dr. Lobinger Frankreich-Deutschland: Der Heimvorteil ist nicht belegt

Köln. Interview mit Dr. Babett Lobinger, Psychologin an der Sporthochschule Köln über die psychische Verfassung der beiden Teams vor dem Halbfinalspiel Frankreich-Deutschland.

Dr. Babett Lobinger ist Psychologin an der Deutschen Sporthochschule in Köln.

Foto: Kenny Beele - Spofo.De

Frau Dr. Lobinger, am Donnerstag trifft Deutschland auf Gastgeber Frankreich. Haben die Franzosen einen Heimvorteil?

Dr. Lobinger: Zuerst muss man wissen, alles, was es an empirischen Studien gibt, belegt den Heimvorteil nicht wirklich. Dennoch ist es interessant, psychologisch zu spekulieren, was ihn ausmacht. Ist es der 12. Mann, der einen unterstützt? Ist es, weil die Spieler sich wie Hausherren benehmen und dadurch selbstbewusster auftreten? Oder weil Freunde und Familie zuschauen und man dann besonders gut sein will?

Seit 1998 konnte keine Fußball-Mannschaft mehr ein großes Heimturnier gewinnen. Das spricht eher für einen Heimnachteil.

Dr. Lobinger: Das kann auch sein. Denken Sie an Brasilien. Da war der Druck eventuell zu groß. Bei Druck ist es wie mit dem berühmten Glas Wasser. Ist es halb leer oder halb voll? Ist er eine Belastung, oder nimmt man ihn als positive Herausforderung, sich zu profilieren?

Frankreich scheint eine besondere Gabe zu haben, damit umzugehen. Sie sind als Gastgeber Europa- und Weltmeister geworden.

Dr. Lobinger: Und die Erinnerung daran kann ihnen auch wieder helfen. Wir nennen das „Moments of excellence“. Sie wissen, wir haben das schon mal geschafft, und das möchten wir auch wieder.

Dennoch lastet diesmal mehr Druck. Die Angst vor dem Terror, die Streiks zu Beginn — man hat das Gefühl, die Mannschaft ist dafür verantwortlich, endlich für EM-Stimmung zu sorgen und allen einen guten Sommer zu bescheren.

Dr. Lobinger: Diesen Druck gibt es, und man braucht ihn auch nicht wegzureden. Aber ich denke, die französischen Spieler sind froh, dass gerade alles relativ ruhig ist und der Sport und seine schönen Momente jetzt wieder im Mittelpunkt steht. Das befreit. Sie können zeigen, dass diese multikulturelle Gesellschaft in ihrer Mannschaft funktioniert, und hoffen, dass der Sport das transportiert und Grenzen abbaut. Und sie schieben Deutschland die Favoritenrolle zu, indem sie sagen: Wir spielen gegen den Weltmeister. Das entlastet.

Deutschland hat schon neunmal den Gastgeber bei großen Turnieren rausgeworfen.

Dr. Lobinger: Ich rate den Trainern ja immer, nutze die Statistik, die für dich spricht (lacht).

Also kann Löw das nutzen?

Dr. Lobinger: Ganz so einfach ist das nicht. Ich würde ihm nicht raten, zu sagen: Hey, wir sind der Gastgeberschreck. Das kann schnell dazu führen zu denken, das schaffen wir eh. Es darf sich andererseits auch nicht das Bild einschleichen: Oje, jetzt müssen wir dem Gastgeber in die Suppe spucken, das wäre nicht gentlemanlike. Aber so denken die Jungs vermutlich eh nicht.

Die haben gerade auch andere Baustellen.

Dr. Lobinger: Manchmal ist es ganz gut, wenn man wie jetzt gezwungen ist, wichtige Kräfte zu ersetzen. Dann sieht man es als Herausforderung, und man weiß: Es gibt Dinge, die können wir nicht beeinflussen. Aber wir müssen uns jetzt voll anstrengen.

Warum gelingt das Deutschland so oft?

Dr. Lobinger: Es gibt den Spruch: Argentinien hat Messi, Portugal Ronaldo, aber wir haben eine Mannschaft. Das hat Deutschland schon immer ausgezeichnet, und Joachim Löw schafft es auch besonders gut, dass das Ganze mehr ist als die Summe der Teile. Auch während des Turniers entwickelt er das Team stets weiter. Das ist eine hohe Kunst. Er schwört diese Individualisten auf ein gemeinsames Ziel ein. Da liegt es auch an den Charakteren, die man dabeihat.

Er hat die Spieler also sehr gut ausgesucht?

Dr. Lobinger: Nicht nur die. Auch sein Team. Ihn zeichnet aus, dass er nicht für alles selbst Experte sein muss, sondern auch die Meinung anderer hört.

Wie kann ein Teampsychologe wie Hans-Dieter Hermann helfen?

Dr. Lobinger: Da gibt es zwei Komponenten. Die Einstellung der Mannschaft ist eher ein „Coach the Coach“. Da geht es darum, den Bundestrainer zu unterstützen, zu überlegen, was er in der Ansprache thematisiert. Daneben gibt es die individuelle Unterstützung.

Die könnte eventuell Thomas Müller benötigen. Er trifft nicht. Wie kann man das ändern?

Dr. Lobinger: Voraussetzung ist, er will das. Dann könnte man überlegen, ob man etwa beim Elfmeter etwas an seiner Technik oder Taktik ändert. Außerdem kann man sich mal den großen Zusammenhang anschauen: Ob es an sich etwas in der Karriere aufzuarbeiten gilt. Das Trainerteam kann thematisieren, dass er vielleicht eine andere Rolle hat. Er trifft nicht, ist aber dennoch Leistungsträger. Und man kann an seine grundlegenden Stärken appellieren. Ihm die besten Szenen seiner Karriere vorspielen und zeigen: Du kannst das.

Wenn Sie Herr Hermann wären…

Dr. Lobinger: Würde ich ihm außerdem schmunzelnd sagen: Hör mal, Thomas, vielen Dank, dass du dafür sorgst, dass gerade alle über dich sprechen. Früher haben alle über Matthäus Knie gesprochen, und die anderen konnten in Ruhe arbeiten. Mourinho macht das auch gerne. Er gibt den Medien Stoff, und alle anderen können besser arbeiten. Wenn wir Europameister werden und in Müllers Windschatten andere knipsen, dann ist doch alles gut.