Schlüssel zum Erfolg: Dominanz und variables Spiel

Paris (dpa) - Der große spielerische Glanz fehlt dieser EM. Wenig Tore, viele Treffer nach Standardsituationen, hoher Fokus auf Defensivarbeit prägen das Turnier. Auch taktisch gibt es keine großen Überraschungen:

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Die Topteams eint der dominante, aber variantenreiche Auftritt - allein Wales setzt auf ein anderes Konzept. Eine Analyse vor den Halbfinals:

RISIKO: Nach einer tor- und risikoarmen Vorrunde nahm das Turnier mit Ausnahme von Langweilern wie Portugal gegen Kroatien zumindest in der K.o.-Runde etwas an Fahrt auf. Im Vergleich zu einem historisch niedrigen Wert von 1,92 Treffern pro Spiel in der Vorrunde fiel vom Achtelfinale an immerhin fast ein Tor im Schnitt mehr (2,83). Der maue Gesamtwert von 2,15 Toren pro Partie reicht aber bislang immer noch nicht für die Top Ten der bisherigen Europameisterschaften.

DOMINANZ: Die Viertelfinals waren Duelle der Philosophien. Viermal gab es das Aufeinandertreffen eines balldominanten Teams mit enorm hoher Passsicherheit mit einer vergleichsweise eher defensiv orientierten Formation. Am wenigsten ausgeprägt war der Unterschied bei der Partie zwischen Wales und Belgien, in der sich auch das einzige Mal das Team mit dem jeweils niedrigeren Turnier-Wert beim Ballbesitz und der Quote an gelungenen Zuspielen durchsetzte. Frankreich münzte seine Überlegenheit in einen Sieg um, Deutschland und Portugal gelang das Weiterkommen zumindest im Elfmeterschießen.

Das Scheitern von Spanien an Italien zeigt, dass der alles erdrückende Kurzpasswirbel nicht mehr das Allheilmittel zum Titelgewinn ist. Ein neuer mauernder Defensiv-Champion wie Griechenland 2004 ist jedoch auch nicht in Sicht - auch wenn Portugals Fernando Santos sagt: „Manchmal muss man pragmatisch sein, um zu gewinnen. Wir würden manchmal gerne schön spielen, aber so gewinnt man nicht immer Turniere.“

TAKTIK: Die große Revolution blieb aus. „Ich habe keine Überraschungen gefunden“, sagte Islands Trainer Lars Lagerbäck. Spannend sind jedoch zwei Beobachtungen: Einerseits sind die Grundsysteme durch eine hohe Varianz geprägt - von der Mode-Formationen der vergangenen Jahre (4-2-3-1/Deutschland), über die defensive Dreier-, beziehungsweise Fünferkette (Italien oder Wales) bis zu einem schon völlig aus der Mode geratenen System mit zwei Viererketten und zwei Stürmern, wie es das Überraschungsteam Island bevorzugte. „Es ist wichtig, das richtige System für deine Spieler zu finden und nicht umgekehrt“, erklärte Lagerbäck.

Zweitens zeichnet alle vermeintlichen Spitzenteams eine taktische Variabilität aus. Deutschland stellte gegen Italien von Vierer- auf Dreier-Abwehrkette um, Frankreich und Portugal können ihre Offensiv-Aufstellung während der Partie ohne Qualitätsverlust ändern. Teams, die wie England zu lange starr in ihrem System verharrten, scheiterten früh. Einzig Mannschaften, die wie Wales und Island den Mangel an durchgehend hohen individuellen Fähigkeiten durch absolute Geschlossenheit und Aufopferungsbereitschaft ausgleichen konnten, kamen bis zu einem gewissen Grad weiter.

Leuchtende Ausnahme: Das vom Talent-Level wohl am niedrigsten ausgestattete Team aus Nordirland wechselte gleich für alle vier EM-Spiele das System - und passte sich so gut wie möglich an den jeweiligen Gegner an. Ergebnis waren eher unansehnliche Defensivschlachten, aber auch der ehrenwerte Achtelfinaleinzug.

STANDARDS: In einem Spiel mit stark organisierten Defensivreihen gewinnen Tore nach ruhenden Bällen wieder an Bedeutung. Der Anteil der Treffer nach sogenannten Standardsituationen stieg im Vergleich zur EM 2012 von gut einem Fünftel (21,1 Prozent) auf mehr als ein Viertel (26,2 Prozent). Dabei sind es aber eher die genialen Momente von Einzelkönnern, die vier direkte Freistöße verwandelten, oder unübersichtliche Situationen, die zu Toren führten. Der Anteil der Kopfballtreffer ging um fast sieben Prozent auf 21,4 Prozent zurück.

BESONDERHEITEN: Und es gibt es doch - dieses eine Stilmittel, das für eine erfrischende Belebung sorgte. Mit seiner langen Einwurfvariante verwirrte Island alle Gegner: Kapitän Aron Gunnarsson schleudert den Ball mächtig bis in den Strafraum, Kari Arnason verlängert per Kopf - in der Nähe des Fünfmeterraums kommt ein isländischer Angreifer heran. Gegen Österreich und England führte dies zu Treffern, und auch Frankreich musste so drei gute Torchancen hinnehmen.